Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
widerstandslos.
»Tut mir leid.« Carlos wandte den Blick defensiv ab, seine ganze
Haltung rutschte ein wenig in sich zusammen, und plötzlich machte er einen sehr
verlorenen Eindruck. »Ich werde Sie bestimmt nicht lange aufhalten. Ich war nur
gerade in der Nähe, und da fiel mir ein, daß ich für das letzte Mal noch nicht
bezahlt habe, und außerdem … Was kostet denn überhaupt eine Sitzung?«
»Sechzig Euro. Aber ich habe Sie noch gar nicht als Patienten
angenommen«, gab Anna kühl zurück.
Carlos ließ sich auf das Sofa sinken und barg das Gesicht in beide
Hände.
»Bitte, ich …«, flüsterte er hilflos und brach dann ab.
Anna setzte sich ihm seufzend gegenüber und wartete.
»Ich kann nicht mehr schlafen. Schon seit Monaten. Dabei bin ich
ganz gesund, sagt mein Hausarzt. Ich habe Alpträume, sehe Bilder, seltsame
Bilder … dann wird mir schwindlig, vielleicht schlafe ich dann ein … manchmal …
dann die Träume … höchstens eine halbe Stunde, und ich bin wieder wach … ich
schwitze, mir ist schlecht … meine Hände zittern …« Carlos starrte abwesend auf
seine Hände. Anna sah, daß seine Hände auch jetzt zitterten.
Anna erhob sich und goß ihm ein Glas Wasser ein. Er schüttelte den
Kopf, er wollte nichts trinken. Anna stellte das Glas weg und fragte ihn, wie
es ihm gehe. Ob er jetzt reden wolle. Vielleicht erst einmal über ein paar ganz
belanglose Eckdaten. Was er so mache, wie er lebe und mit wem, was ihn bewege,
ängstige, freue …
Carlos winkte ab: später. Wichtig sei nur, daß sie ihn als Patienten
annehme. Anna nickte.
Er bedankte sich und stand auf. Er wolle ihr nicht den Feierabend
stehlen, er fühle sich jetzt besser und sei sehr erleichtert. Ob sie ihm einen
Termin geben würde, dann würde er ihn wahrnehmen. Wenn etwas dazwischenkäme,
würde er rechtzeitig absagen. Per Telefon oder per Mail. Anna blätterte in
ihrem Kalender, während er, von ihr unbemerkt, mit einem Taschentuch in der
Hand einen Umschlag aus seinem Sakko zog und auf ihren Schreibtisch legte. Sie
gab ihm einen Termin für Montag der folgenden Woche. Er bedankte sich erneut.
Beim Hinausgehen fiel sein Blick auf einen kleinen Olivenbaum, der in Annas
Bücherregal stand. Nur wenige, gelbe Blätter hingen noch an den dünnen Zweigen.
»Zu wenig Licht, zu viel Wasser für die Olea Europaea«, meinte
Carlos, »Sie müssen sie ans Fenster stellen.« Anna sah ihn verwundert an, dann
brachte sie ihn zur Haustür. Er lächelte kaum merklich und ging. Als Anna die
Tür hinter ihm schloß, hatte sie schon wieder das Gefühl, von ihm manipuliert
worden zu sein.
Unwillkürlich dachte sie an Pete. Sie war am Morgen dem
Impuls gefolgt, ihn als entschuldigende Geste zum Einkaufen seiner
Wohnungsausstattung zu begleiten. Als sie vor seinem Hotel einparken wollte,
hatte sie ihn mit der Luxor-Kellnerin aus dem Eingang kommen sehen.
Es war vollkommen unsinnig von ihr, sich zu ärgern, weil er die
Kellnerin abgeschleppt hatte. Sie war nicht mal verliebt in ihn, es gab also
keinerlei Grund für Eifersucht. Doch sie fühlte sich in ihrer Eitelkeit getroffen.
Ein Knopf, den sie am gestrigen Abend bei ihm nicht nur gedrückt, sondern mit
dem Vorschlaghammer bearbeitet hatte. Sie konnte ihm nichts vorwerfen. Er ihr
aber. Distanziert resümierte sie noch einmal ihr Verhalten und mußte sich
schließlich seufzend als beziehungsgestörte Zicke einstufen. Unsicher griff sie
zu ihrem Handy und starrte es an. Es dauerte eine halbe Minute, dann gab sie
sich einen Ruck und schickte Pete eine SMS: »Wie kann ich meinen dämlichen Auftritt
von gestern vergessen machen?«
Sie legte das Handy beiseite und schloß den Schreibtisch und ihren
Aktenschrank ab. Dabei bemerkte sie den Umschlag, den Dante hinterlassen hatte.
Sie öffnete ihn. Er enthielt fünfhundert Euro und einen Zettel, der das Geld
zur Vorauszahlung für die nächsten Sitzungen erklärte. Anna schüttelte unwillig
den Kopf. Wieso konnte sich dieser Typ nicht an die Gepflogenheiten halten? Sie
würde ihm das Geld am Montag zurückgeben. Verärgert legte sie den Umschlag in
ihr Bücherregal. Da ertönte ein Nachrichtensignal von ihrem Handy. Lächelnd las
sie Petes Antwort: »Soll ich vorbeikommen? Dann sag ich dir, wie.« Sie schickte
ihm ein kurzes Ja und bat um eine Stunde Zeit. Sie wollte sich noch den Tag von
der Haut spülen, bevor er mit seiner Zunge darüber fuhr.
Als er bei ihr zu Hause klingelte, kam Anna eilig aus dem
Badezimmer, zog das enge rote Seidenkleid
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