Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
schwer, den Abend zu überstehen.
Mit sich und seinen Gedanken allein zu sein. Mit den Gedanken an die ermordeten
Kinder. Ihr Leid. Ein unschuldiges, am Straßenrand aus der Mitte seiner Familie
herausgerissenes Kind, über das plötzlich sinnlose Gewalt hereinbricht.
Unbegreifliche Gewalt, ein entsetzlicher Schock des Untergangs der bisher
bekannten Welt, der noch viel schlimmer ist als alle körperlichen Schmerzen,
die man einem Kind zufügen kann. Unheilbare Wunden. Die vier Kinder, deren
Mörder er jagte, waren schon vor ihrem gewaltsamen Tod ihrer Seele beraubt
worden. Der Blick des mißbrauchten Jungen in dem Film quälte ihn unablässig.
Wenn seinem Sohn im Kindesalter so etwas zugestoßen wäre, hätte er den Vergewaltiger
vermutlich blindwütig getötet. Oder noch schlimmer: eiskalt, ohne mit der
Wimper zu zucken. Christian war fest davon überzeugt, daß der Mensch nur einen
winzigen Schritt von der Bestie in sich entfernt ist, eine hauchdünne Schicht,
bestehend aus gesellschaftlichen Konventionen und konsensgetragener Moral,
damit die Menschheit sich wenigstens in den Zeiten zwischen den Kriegen nicht
haltlos selbst zerfleischt. Christian fragte sich, an welchem Punkt, durch
welchen Auslöser der Bestatter diese Schicht durchbrochen hatte.
Er tigerte in seiner Wohnung auf und ab, ging die Fakten wieder und
wieder durch, suchte nach neuen Anhaltspunkten, kochte Kaffee und ging alles
noch einmal durch. Kinder, Pädophile, Auftragskiller, Hänsel und Gretel,
Lilien, Leichentuch, Bibel, Beerdigung … Er mußte warten. Und unterdessen
suchte da draußen der Killer sein nächstes Opfer.
Sobald Christian auf einen Fall angesetzt war und Fährte aufgenommen
hatte, war er wie ein Spürhund, der die Nase nicht mehr vom Boden lassen wollte.
Nur weiter, auf das eine Ziel fokussiert, in der Hoffnung, daß die Spur
frischer wird, die Beute schließlich gestellt und erlegt werden kann. Wenn er
auf der Jagd war, vergaß Christian sein Privatleben, er vergaß einzukaufen,
Wäsche zu waschen und seine Hemden aus der Reinigung abzuholen.
Dann kamen seltene Tage, an denen er merkte, daß er einen Körper
besaß. Den gestrigen Tag hatte er zur Hälfte fluchend im Büro verbracht, die
andere Hälfte lesend in der Universitätsbibliothek. Nach dem Treffen mit Pete
im R&B
war er auch noch zu Hause in Bücher vertieft gewesen: Bibel,
Bibelinterpretationen, Profiler-Berichte, Fachliteratur über Pädophile aus
psychologischer, aus soziologischer, aus kriminalistischer Sicht. Bis spät in
die Nacht hinein hatte er gelesen, bis er mal wieder erschöpft auf dem Sofa
eingeschlafen war. Heute fühlte er sich elend und schwach. Er hatte, bis auf
die paar Kekse, die ihm Yvonne in den Mund geschoben hatte, um ihn vom Fluchen
abzuhalten, das Essen vergessen. Als ihn nun der Hunger plötzlich anfiel wie
ein wildes Tier, stellte er fest, daß er nichts zu Hause hatte, nicht mal eine
klägliche Scheibe Knäckebrot. Seine Lust, nach draußen unter Menschen zu gehen,
hielt sich jedoch in Grenzen.
Hungrig und unschlüssig stand Christian an seinem Fenster und
tauchte in die sich herabsenkende Abenddämmerung ein. Er überlegte, ob es heute
abend für ihn noch etwas Sinnvolles zu tun gab. Van Klerk würde frühestens
morgen wieder von sich hören lassen. Bis dahin steckten sie in einer Sackgasse.
Das einzige, was sie hatten, war ein Immobilienmakler, der viel in der Gegend
rumflog und sich früher mal angeblich mit einem Jungen vergnügt hatte. Ein
Vorwurf, der zurückgenommen worden war. Deterings Anwalt, und man konnte davon
ausgehen, daß er einen guten hatte, würde sie in der Luft zerreißen wie eine
nasse Zeitung, wenn sie seinen Klienten zu einem Gespräch ins Präsidium bitten
würden. Christian hatte mit den anderen diskutiert, ob sie Karl Detering ab
sofort beschatten sollten. Doch sie würden bei Lage der Dinge keine
richterliche Erlaubnis für diese kostenintensive Maßnahme bekommen, und die
Ergebnisse einer inoffiziellen Beschattung konnten sie nicht in ihr
Beweismaterial mit einfließen lassen. Schlimmer noch, wenn Detering tatsächlich
der Bestatter war, und es kam heraus, daß Christian ihn ohne Kenntnis des
Staatsanwalts hatte beschatten lassen, würde dies als Verfahrensfehler gelten
und einen schuldigen Mörder wieder auf freien Fuß setzen.
Ein lautes Krachen riß Christian aus seinen Gedanken. Das von den
Meteorologen angekündigte heftige Sommergewitter brach jählings über Hamburg
herein. Dunkle Wolken jagten über
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