Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
Volkers einziger Kommentar.
Über Mittag traf Christian sich mit Anna an der Alster. Es
war wieder heißer geworden, die hohe Luftfeuchtigkeit lag über der Stadt wie
ein nasses Handtuch. Christian wartete an der Musikhochschule und sah Anna
schon von weitem, als sie die Milchstraße herunterkam. Sie trug einen kurzen,
weißen Leinenrock, ein enges Shirt, flache Sandalen und eine große
Umhängetasche aus Bast. Fast sah sie aus, als wollte sie zum Strand. Christian
spürte, wie sein Herz ein wenig schneller zu klopfen begann. Er begrüßte sie
unbeholfen mit einem Handschlag. Die beiden schlenderten quer über die Wiese
und setzten sich schließlich in die herumstehenden weißen Holzstühle. Anna
wirkte sehr müde. Sie hatte sich ein Sandwich mitgebracht, das sie aus den
Tiefen ihrer Schultertasche zog, biß jedoch nur einmal lustlos hinein und legte
es beiseite.
»Du hast überhaupt nicht geschlafen, oder?« fragte Christian
mitfühlend. Sein Blick glitt über ihre Beine und landete auf ihre schlanken,
leicht gebräunten Fesseln. Am liebsten würde er alles vergessen, seinen Fall,
ihre Liaison mit Pete, seine bemühte Zurückhaltung. Er verspürte den Drang,
ihren nervös wippenden rechten Fuß auf seinen Schoß zu nehmen und ihn zärtlich
zu massieren.
»Ein paar Stunden«, winkte sie ab, »ich habe mich heute morgen
erkundigt, was mir wegen der Verletzung der Schweigepflicht droht.«
»Und?«
»Wenn es rauskommt und mich die Kommission am Wickel packt, kann ich
mich auf ›Gefahr im Verzug‹ berufen. Mit etwas Glück und einem
Kommissionsvorsitzenden, der Kinder hat, komme ich damit durch.«
»Und mit wenig Glück?«
»Schlimmstenfalls verliere ich meine Lizenz.« Anna wischte den
Gedanken mit einer unwirschen Handbewegung weg. »Hast du meine Mail bekommen?«
Er nickte.
»Und wie geht es jetzt weiter?« wollte sie wissen.
Christian erzählte ihr, daß sie Detering zu einem sogenannten
Informationsgespräch gebeten hatten. Er schien nicht allzu überrascht gewesen
zu sein. Anna fand, das stütze doch die These von seinem unbewußten Wunsch,
verhaftet zu werden. Christian jedoch vermutete eher, daß Detering einfach
wissen wollte, was sie wußten. Er befragte Anna nach ihrem Eindruck von
Deterings Intelligenz.
»Er macht auf mich einen gebildeten, klugen Eindruck, meist sehr
kontrolliert. Manchmal hatte ich das Gefühl, daß er lügt. Daß er mir was
vorspielt. Ich weiß nicht. Als wolle er lieber jemand anderes sein.«
»Ginge mir an seiner Stelle auch so«, knurrte Christian.
»Ich kann nicht viel über ihn sagen. Er war nur dreimal bei mir. Und
davon zweimal nur ganz kurz.«
Christian starrte, ohne es zu merken, sehnsüchtig auf Annas
Sandwich. Sie nahm es lächelnd und hielt es ihm hin.
»Willst du es wirklich nicht?« Ganz plötzlich spürte Christian, wie
hungrig er war. Anna schüttelte den Kopf. Heißhungrig biß er hinein, es war
belegt mit Schinken, gekochtem Ei und einem knackigen Salatblatt, es schmeckte
wunderbar.
»Wann genau war er das erste Mal bei dir?« nuschelte er mit vollem
Mund.
»Am Dienstag. Und dann kam er unangemeldet Mittwoch wieder.«
Christian ließ irritiert ab von dem Sandwich: »Ich dachte, er sei
schon länger bei dir in Behandlung, weiß auch nicht, wieso.«
»Vermutlich, weil es nicht üblich ist, daß sich ein Patient in der
ersten richtigen Sitzung schon so öffnet. Bei vielen dauert es Jahre, bis man
zu ihren frühkindlichen Traumata vordringt.«
»Macht dich das nicht mißtrauisch?« wollte Christian wissen, während
er den letzten Bissen Sandwich hinunterschlang.
Anna nahm nachdenklich eine kleine Flasche Wasser aus ihrer Tasche
und bot sie Christian an: »Schon. Das lief alles sowieso nicht ab wie …
Normalerweise steuert der Therapeut, unmerklich zwar, aber er steuert. Bei
Dante … Er hat mich gesteuert. Ich habe ihm sogar vorgeworfen, daß er mich
manipulieren will.«
Christian trank einen Schluck: »Dante?«
»Vergiß den Namen schnell wieder!«
Christian gab ihr die Flasche zurück: »Erstaunlich, was du alles in
deiner Handtasche hast. Gibt’s da noch einen Schokopudding zur Nachspeise?«
Anna lachte.
»Was hat er gesagt, als du ihm das vorgeworfen hast?«
»Er hat überhaupt nicht reagiert.«
Christian nickte: »Wie heute auf Volkers Attacke. Der hat sich ganz
gut im Griff, der Typ.«
»Welche Attacke?« wollte Anna wissen.
»Spielt keine Rolle. Paß auf, Anna, ich will zwei Dinge von dir.
Erstens: Könntest du kurz vor siebzehn Uhr
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