Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
auch
nicht. Und dann war das Tor zur Hölle wieder zu.«
Die drei schwiegen eine Weile. Man hörte nur das Klicken des
Feuerzeugs, mit dem Anna sich eine Zigarette anzündete, und ihre gierigen
ersten Züge.
»Ich hatte den Eindruck, daß er mich wirklich nicht erkannt hat. Das
schien nicht gespielt«, nahm Anna den Faden schließlich wieder auf. »Und noch
seltsamer war, daß ich ihn nicht erkannt habe.«
Christian blickte auf. »Wie meinst du das?«
Anna winkte ab: »Keine Panik. Natürlich ist er es. Er war mir nur
total fremd. Bis das mit den Augen … Ihr wißt schon … Da war er mir vertraut.
Aber vorher …«
»Hast du schon mal an MPS gedacht?« fragte Pete.
Ernst antwortete sie: »Ich hatte noch nie einen Fall in meiner
Praxis, habe aber ’ne Menge drüber gelesen. Möglich wär’s. Und die Anamnese ist
klassisch.«
»Multiple Personality Syndrome«, erklärte Pete Christian. »In Europa
streiten die Fachleute noch, ob es das überhaupt gibt, während sie in den USA
schon fleißig am therapieren sind.«
»Hier inzwischen auch«, wandte Anna ein, »so rückständig sind wir
nicht. Obwohl die wissenschaftlichen Zweifel daran nicht ganz ohne Fundament …«
»Könnt ihr euren selbstverliebten Diskurs einfach komplett weglassen
und mich aufklären?« knurrte Christian.
»Bei MPS oder auch dissoziativer Identitätsstörung handelt
es sich um eine posttraumatische Erkrankung, die sich durch das Vorhandensein
mehr oder weniger stark abgespaltener Persönlichkeits- oder Selbstzustände
auszeichnet«, begann Anna, scheinbar ungerührt von Christians schlechter Laune.
»Das heißt, ein Mensch, häufig noch im Kindesalter, erlebt
schreckliche Dinge und entwickelt zum eigenen Schutz vor diesen Erlebnissen
eine oder mehrere andere Persönlichkeiten, die das eben nicht erlebt haben. Das
führt zwangsweise zu permanenten Löchern im Alltag, wenn die Person von einer
Identität zur anderen geswitcht ist und sozusagen die linke Hand nicht weiß,
was die rechte gestern getan hat«, fuhr Pete fort. »Es gibt natürlich das
Problem der Unterscheidung von MPS und Schizophrenie, vor allem für den Laien,
der …«
»Ich hab’s verstanden«, unterbrach Christian und wandte sich an
Anna. »Glaubst du, daß Detering das hat? MPS?«
Anna zuckte die Schultern: »Möglich. Es paßt alles zusammen.«
»Eben«, mischte sich Pete wieder ein, »und vorhin, als du ihn mit
den Reizwörtern von Carlos konfrontiert hast, sind sich Karl und Carlos zum
ersten Mal begegnet, und er ist mit dieser Art Doppelbelichtung seines Ichs
nicht klargekommen. Das hat den Schock ausgelöst.«
Anna fand Petes Theorie durchaus plausibel und paßte bekannte
Details über Deterings Psyche, wie etwa die Amnesie, in das neue
Gedankengebäude ein. Während Anna und Pete weiter fachsimpelten, verfinsterte
sich Christians Miene immer mehr, bis er die beiden schließlich rüde
unterbrach. Er könne diesem Geschwafel über die Gründe und Abgründe eines
Täters wenig abgewinnen, und psychologische Gutachten vor Gericht dienten
sowieso nur dazu, die verdiente Strafe abzumildern und sich vor dem Knast zu
drücken. Als Anna ihn daraufhin nach seiner Haltung zur Resozialisierung
fragte, schnappte sich Christian seine Jacke und sagte verächtlich: »Detering
sitzt jetzt beim Arzt, heult dem was vor, und danach wird er garantiert von
Waller freigelassen! Ihr könnt von mir aus sozialisieren und philosophieren und
psychologisieren, bis ihr Freud und Jung und all die anderen toten Säcke in
eurer Studierstube neu erfunden habt. Da draußen werden Kinder umgebracht.
Kinder! Ich brauche den Namen und die Adresse eines Mörders, um ihn von der
Straße zu ziehen, der Rest interessiert mich einen Scheißdreck.« Damit ging er
hinaus.
Wütend stapfte Christian durch die Flure des
Untersuchungsgefängnisses. Er wußte, daß er vollkommen unangemessen reagiert
hatte. Und unprofessionell. Weil er das ungeschriebene Gesetz, Privates und
Berufliches strikt zu trennen, ständig übertrat. Diese Psychologin mit dem
klaren, festen Blick und der atemberaubenden Figur brachte ihn völlig aus der
Fassung. Er wollte sie aus dem Fall heraushalten, statt dessen zog er sie immer
mehr hinein. Er wollte sie nicht mehr in Petes Nähe sehen, statt dessen
verabredete sie sich nun erneut mit ihm. Christian schnaubte unwillkürlich. Er
sah deutlich vor sich, wie Pete Anna schmeicheln würde, zuerst auf beruflicher
Ebene, dann auf privater. Wie er sie an sich ziehen würde, um ihre
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