Der Besuch der alten Dame (German Edition)
zuviel in der letzten Zeit. Eben im ›Goldenen Apostel‹ war eine ziemlich scharfe Zecherei, direkt eine alkoholische Orgie. Hoffentlich stört Sie meine Fahne nicht.
FRAU ILL Noch eins wird nicht schaden. Schenkt ihm wieder ein.
DER LEHRER Ihr Mann?
FRAU ILL Oben. Geht immer hin und her.
DER LEHRER Noch ein Gläschen. Das letzte. Schenkt sich selber ein.
Der Maler kommt von links. Neuer Manchesteranzug, buntes Halstuch, schwarze Baskenmütze.
DER MALER Vorsicht. Zwei Journalisten fragten mich nach diesem Laden.
DER ERSTE Verdächtig.
DER MALER Ich tat, als wüßte ich nichts.
DER ZWEITE Klug.
DER MALER Hoffentlich kommen sie in mein Atelier. Malte einen Christus.
Der Lehrer schenkt sich wieder ein. Draußen gehen die beiden Frauen vom zweiten Akt elegant gekleidet vorbei und betrachten die Ware im fingierten Schaufenster.
DER ERSTE Diese Weiber.
DER ZWEITE Gehn ins neue Kino am hellichten Tag.
Von links kommt der Dritte.
DER DRITTE Die Presse.
DER ZWEITE Dichthalten.
DER MALER Aufpassen, daß er nicht nach unten kommt.
DER ERSTE Dafür wird gesorgt.
Die Güllener stellen sich rechts auf. Der Lehrer hat die Flasche halb ausgetrunken und bleibt am Ladentisch stehen. Zwei Pressemänner kommen mit Photoapparaten. Hinter ihnen erscheint der vierte Güllener.
PRESSEMANN I Guten Abend, ihr Leute.
DIE GÜLLENER Grüß Gott.
PRESSEMANN I Frage eins: Wie fühlt ihr euch, allgemein gesprochen?
DER ERSTE verlegen Wir sind natürlich erfreut über den Besuch der Frau Zachanassian.
DER DRITTE Erfreut.
DER MALER Gerührt.
DER ZWEITE Stolz.
PRESSEMANN I Stolz.
DER VIERTE Kläri ist schließlich die unsrige.
PRESSEMANN I Frage zwei an die Frau hinter dem Ladentisch: Es wurde behauptet, Ihr Mann hätte Sie Claire Zachanassian vorgezogen.
Stille.
DER ERSTE Wer behauptet das?
PRESSEMANN I Die beiden kleinen, dicken, blinden Onkelchen der Frau Zachanassian.
Stille.
DER VIERTE zögernd Was erzählten die Onkelchen?
PRESSEMANN II Alles.
DER MALER Verflucht.
Stille.
PRESSEMANN II Claire Zachanassian und der Besitzer dieses Ladens hätten sich vor mehr als vierzig Jahren beinahe geheiratet. Stimmt’s?
Schweigen.
FRAU ILL Stimmt.
PRESSEMANN II Herr Ill?
FRAU ILL In Kalberstadt.
ALLE In Kalberstadt.
PRESSEMANN I Wir können uns die Romanze vorstellen: Herr Ill und Claire Zachanassian wachsen zusammen auf, sind vielleicht Nachbarskinder, gehen gemeinsam in die Schule, Spaziergänge in den Wald, die ersten Küsse und so weiter, bis Herr Ill Sie kennenlernt, gute Frau, als das Neue, das Ungewohnte, als die Leidenschaft.
FRAU ILL Es ist genau so passiert, wie Sie es erzählen.
PRESSEMANN I Claire Zachanassian begreift, verzichtet auf ihre stille, edle Art, und Sie heiraten –
FRAU ILL Aus Liebe.
DIE ANDEREN GÜLLENER erleichtert Aus Liebe.
PRESSEMANN I Aus Liebe.
Die beiden Pressemänner schreiben gleichgültig in ihre Notizbücher. Von rechts kommen die beiden Eunuchen, von Roby am Ohr geführt.
DIE BEIDEN jammernd Wir wollen nichts mehr erzählen, wir wollen nichts mehr erzählen.
Sie werden nach dem Hintergrund gebracht, wo sie Toby mit einer Peitsche erwartet.
DIE BEIDEN Nicht zu Toby, nicht zu Toby!
PRESSEMANN II Ihr Mann, Frau Ill, ist er nicht hin und wieder, ich meine, es wäre schließlich menschlich, wenn es ihn hin und wieder reuen würde.
FRAU ILL Geld allein macht nicht glücklich.
PRESSEMANN II Nicht glücklich.
Der Sohn kommt von links. In einer Wildlederjacke.
FRAU ILL Unser Sohn Karl.
PRESSEMANN I Ein prächtiger junger Mann.
PRESSEMANN II Weiß er Bescheid über die Beziehungen …
FRAU ILL Wir kennen keine Geheimnisse in unserer Familie. Mein Mann sagt immer: Was Gott weiß, sollen auch unsere Kinder wissen.
PRESSEMANN I Gott weiß.
PRESSEMANN II Kinder wissen.
Die Tochter betritt den Laden im Tenniskostüm, einen Tennisschläger in der Hand.
FRAU ILL Unsere Tochter Ottilie.
PRESSEMANN II Charmant.
Nun rafft sich der Lehrer auf.
DER LEHRER Güllener. Ich bin euer alter Lehrer. Ich habe still meinen Steinhäger getrunken und zu alledem geschwiegen. Doch nun will ich eine Rede halten, vom Besuch der alten Dame in Güllen. Er klettert auf das Fäßchen, das noch von der Peterschen Scheune übriggeblieben ist.
DER ERSTE Verrückt geworden?
DER ZWEITE Aufhören.
DER DRITTE Runter vom Faß!
DER LEHRER Güllener! Ich will die Wahrheit verkünden, auch wenn unsere Armut ewig währen sollte!
FRAU ILL Sie sind
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