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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H.G. Wells
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Vikar, „durchaus nicht. Nur ... Natürlich kann es unangenehm werden, wenn Sie eine allzu unglaubwürdige Geschichte erzählen. Wenn ich vorschlagen dürfte, hm ...“
    „Nun?“
    „Wissen Sie, die Leute werden Sie, da sie selbst Menschen sind, fast sicher als einen Menschen betrachten. Wenn Sie behaupten, Sie seien keiner, werden sie ganz einfach sagen, daß Sie nicht die Wahrheit reden. Nur au
    ßergewöhnliche Leute schätzen das Außergewöhnliche richtig ein. Man muß mit den Wölfen – nun, ein wenig auf die Wölfe eingehen – mit ihnen heulen. Sie werden sehen, daß es besser ist ...“
    „Du legst mir nahe, ich solle mich als Mensch geben?“
    „Sie haben mich ganz richtig verstanden.“ Der Engel starrte auf die Stockrosen des Vikars und überlegte.

    „Vielleicht“, sagte er langsam, „werde ich doch ein Mensch. Es war vielleicht etwas voreilig, zu sagen, daß ich keiner bin. Du sagst, es gibt in dieser Welt keine Engel. Wer bin ich, daß ich mich deiner Erfahrung widersetze.
    Nichts als das bloße Geschöpf eines Tages –

was diese Welt angeht.
    Wenn du sagst, es gibt keine Engel – muß ich klarerweise etwas anderes sein. Ich esse – Engel essen nicht. Vielleicht bin ich schon ein Mensch.“
    ,,Ein brauchbarer Standpunkt, auf jeden Fall“, sagte der Vikar.
    „Wenn er dir brauchbar erscheint ...“
    „Sicher. Und außerdem, um Ihre Anwesenheit hier zu erklären.“
    „Wenn“, fuhr der Vikar nach einem Augenblick des Zögerns fort, „wenn Sie zum Beispiel ein gewöhnlicher Mensch gewesen wären, mit einer Schwäche dafür, im Wasser zu waten, und Sie wären im Sidder herumgewatet, Ihre Kleider wären gestohlen worden, zum Beispiel, und ich wäre in dieser unangenehmen Situation auf Sie gestoßen, so wäre der Erklärung, die ich Mr. Mendham geben werden muß
    – wenigstens der Anstrich des Übernatürlichen genommen. Heutzutage bringt man dem Übernatürlichen so viel Vorbehalte entgegen –

    sogar auf der Kanzel. Sie würden gar nicht glauben ...“
    „Schade, daß das nicht der Fall war“, sagte der Engel.
    „Natürlich“, sagte der Vikar. „Es ist sehr schade, daß das nicht der Fall war. Aber jedenfalls würden Sie mir einen Gefallen tun, wenn Sie Ihr Engelswesen nicht zur Geltung brächten. Sie würden in der Tat jedem dadurch einen Gefallen erweisen. Es hat sich die feste Überzeugung durchgesetzt, daß Engel derartige Dinge nicht tun. Und nichts ist peinlicher –
    das kann ich beschwören –, als wenn eine feste Überzeugung ins Wanken gerät ... Feste Überzeugungen sind in mehrerer Hinsicht geistige Stützen. Was mich betrifft“, der Vikar fuhr sich kurz mit der Hand über die Augen, „ich kann nicht umhin, zu glauben, daß Sie ein Engel sind ... Ich kann doch wohl meinen Augen trauen.“
    „Wir tun immer das, was wir für richtig halten“, sagte der Engel.
    „Wir auch, in bestimmten Grenzen.“ Da schlug die Uhr auf dem Kaminmantel sieben, und beinahe gleichzeitig kündigte Mrs. Hinijer das Dinner an.

18
    Der Engel und der Vikar saßen beim Dinner.
    Der Vikar, der die Serviette in den Kragenausschnitt gesteckt hatte, beobachtete den Engel, wie er mit seiner Suppe kämpfte. „Sie werden das bald beherrschen“, sagte der Vikar. Das Hantieren mit Messer und Gabel wurde unbeholfen, aber wirkungsvoll erledigt. Der Engel sah Delia, das kleine Kammermädchen, verstohlen an. Als sie bald darauf Nüsse knackten
    – was der Engel recht vergnüglich fand –, fragte der Engel: „War das auch eine Dame?“
    „Na ja“, sagte der Vikar (krach). „Nein – sie ist keine Dame. Sie ist ein Dienstmädchen.“
    „Ah, ja“, sagte der Engel, „sie hatte auch eine viel hübschere Figur.“
    „Das dürfen Sie Mrs. Mendham nicht sagen“, sagte der Vikar und empfand eine heimliche Befriedigung.
    „Ihre Schultern und Hüften waren nicht so eckig, und sie hatte dazwischen mehr. Und die Farbe ihres Kleides war nicht schreiend – einfach neutral. Und ihr Gesicht ...“
    „Mrs. Mendham und ihre Töchter haben Tennis gespielt“, sagte der Vikar, der das Gefühl hatte, er dürfe dieser Herabsetzung nicht zuhören, nicht einmal, wenn sie seinen Todfeind betraf. „Schmecken Ihnen diese Sachen – diese Nüsse?“
    „Sehr“, sagte der Engel. Krach.
    „Wissen Sie“, sagte der Vikar mampfend,
    „was mich betrifft, so glaube ich durchaus, daß Sie ein Engel sind.“
    „Ja!“ sagte der Engel.
    „Ich habe Sie abgeschossen – ich habe Sie flattern gesehen. Das steht außer

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