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Der Besuch

Der Besuch

Titel: Der Besuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H.G. Wells
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funkelnde Melodien kreisten, verschwanden und wieder auftauchten. Er war im Land der Schönheit, und noch einmal war der Glanz des Himmels auf des Engels Gesicht, und die glühende Pracht der Farben pulsierte in seinen Flügeln. Sich selbst konnte der Vikar nicht sehen. Aber ich kann Ihnen die Vision dieses großen und weiten Landes nicht schildern, nicht seine unglaubliche Weite und Höhe und Herrlichkeit.
    Denn es gibt dort keinen Raum wie unseren, keine Zeit, wie wir sie kennen; man muß notgedrungen in unbeholfenen Metaphern sprechen und schließlich doch voll Bitterkeit zugeben, daß man versagt hat. Und es war nur eine Vision. Die wunderbaren Geschöpfe, die durch den Äther flogen, sahen nicht, wie sie dastanden, flogen durch sie hindurch, wie durch einen Nebelschleier. Der Vikar verlor jedes Gefühl für Dauer, jedes Gefühl für Notwendigkeit ...
    „Ah!“ sagte der Engel, der plötzlich die Geige niederstellte.
    Der Vikar hatte das Buch über Volkswirtschaftslehre vergessen, hatte alles vergessen, als der Engel geendet hatte. Eine Minute lang saß er ganz still. Dann wachte er mit einem Ruck auf. Er saß auf der alten, eisenbeschlagenen Kiste.
    „Wirklich“, sagte er langsam, „Sie sind sehr geschickt.“
    Er blickte verwirrt um sich. „Während Sie spielten, hatte ich eine Vision. Ich sah ... Was sah ich? Es ist fort.“
    Er stand auf und hatte einen Gesichtsausdruck, als sei er geblendet worden. „Ich werde nie mehr Violine spielen“, sagte er. „Ich wünsche, Sie würden sie auf Ihr Zimmer nehmen –
    und behalten – Und mir wieder vorspielen. Ich hatte keine Ahnung von Musik, bis ich Sie spielen hörte. Ich komme mir vor, als hätte ich nie zuvor Musik gehört.“

    Er starrte den Engel an, dann schaute er sich im Zimmer um. „Ich habe niemals zuvor bei Musik so etwas gefühlt“, sagte er. Er schüttelte den Kopf. „Ich werde nie wieder spielen.“ 24
    Meiner Meinung nach war es sehr unklug vom Vikar, daß er dem Engel erlaubte, allein ins Dorf zu gehen, um seine Kenntnisse über die Menschen zu erweitern. Unklug deshalb, weil er ja die Eindrücke nicht vorausahnen konnte, die der Engel empfangen würde. Nicht ohne Hintergedanken, fürchte ich. Er hatte sich immer mit einem gewissen Anstand im Dorf bewegt, und der Gedanke an ein langsames Dahinschreiten in der kleinen Straße mit all den unvermeidlichen neugierigen Bemerkungen, Erklärungen und dem Fingerzeigen war zu viel für ihn. Der Engel könnte die seltsamsten Sachen machen, das Dorf hielt sie gewiß für seltsam. Gaffende Gesichter. „Wen hat er denn da aufgelesen?“ Außerdem, war es nicht seine Pflicht, rechtzeitig seine Predigt vorzubereiten? Also ging der Engel, entsprechend unterrichtet, fröhlich allein hinunter – noch immer arglos gegen die meisten menschlichen Eigenheiten, soweit sie sich von denen der Engel unterscheiden.
    Der Engel ging langsam, seine weißen Hände hinter dem gekrümmten Rücken gefaltet, sein liebliches Gesicht blickte bald hierhin, bald dorthin. Neugierig musterte er die Leute, die er traf. Ein kleines Kind, das ein Bündel Wicken und Geißblätter pflückte, blickte ihm ins Gesicht und kam sogleich und drückte ihm die Blumen in die Hand. Es war so ungefähr die einzige Freundlichkeit, die ihm von einem menschlichen Wesen zuteil wurde (den Vikar und einen weiteren ausgenommen). Er hörte Mutter Gustick ihre Enkelin schelten, als er an der Tür vorbeiging. „Du unverschämte Hure –
    du!“ sagte Mutter Gustick. „Du lumpiges Weibsbild, du Schlampe!“
    Der Engel blieb stehen, erschrocken über die seltsamen Geräusche, die Mutter Gustick ausstieß. „Putzt dich raus, steckst die Feder an den Hut und haust ab, um diesen Kerl zu treffen, und ich rackere mich hier ab für dich.
    Willst die vornehme Dame spielen, mein Kind, der pure Leichtsinn bist du mit deiner Faulheit und deinem Aufputz ...“
    Die Stimme brach jäh ab, und großer Friede breitete sich in der erschütterten Luft aus.
    „Höchst grotesk und seltsam!“ sagte der Engel, und er betrachtete noch immer dieses wunderbare Häuschen voller Mißtöne. „Purer Leichtsinn.“ Er wußte nicht, daß Mrs. Gustick plötzlich seine Gegenwart bemerkt hatte, und daß sie durch die Jalousie sein Aussehen musterte. Jäh flog die Tür auf, und sie starrte heraus, dem Engel ins Gesicht. Eine seltsame Erscheinung, graue und schmutzige Haare, und der Hakenverschluß des schmutzigen, rosafarbenen Kleides geöffnet, so daß der sehnige Hals sichtbar war,

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