Der Besuch
Frühstück ist fertig. Möchten Sie nicht herunterkommen?“ Widerstrebend verließ der Engel das Fenster.
„Unsere Gesellschaft“, erklärte der Vikar auf der Treppe, „ist eine komplizierte Einrichtung.“
„Wirklich?“
„Und sie ist so zusammengesetzt, daß einige dieses tun und einige jenes.“
„Und der magere, gebeugte alte Mann schleppt sich hinter diesem schweren Blatt aus Eisen her, das von zwei Pferden gezogen wird, während wir hinuntergehen, um zu essen?“
„Ja. Sie werden sehen, daß es vollkommen gerecht ist. Ah, Pilze und verlorene Eier! Es ist das Gesellschaftssystem. Bitte setzen Sie sich.
Möglicherweise halten Sie es für ungerecht?“
„Es verwirrt mich“, sagte der Engel.
„Das Getränk, das ich Ihnen vorsetze, heißt Kaffee“, sagte der Vikar. „Ich darf wohl sagen, daß Sie das sind. Als ich ein junger Mann war, war ich genauso verwirrt. Aber dann eröffnet sich eine weitere Perspektive. (Diese schwarzen Dinger werden Pilze genannt; sie sehen herrlich aus.) Andere Erwägungen. Alle Menschen sind Brüder, natürlich, aber einige sind jüngere Brüder, sozusagen. Es gibt Arbeiten, die Kultur und Bildung verlangen, und Arbeiten, bei denen Kultur und Bildung hinderlich wären. Und die Eigentumsrechte dürfen nicht vergessen werden. Gib dem Kaiser, was des Kaisers ist ... Wissen Sie, anstatt diese Sache jetzt zu erklären (das gehört Ihnen), werde ich Ihnen ein kleines Buch leihen (Mampf, mampf, mampf – diese Pilze sehen nicht nur gut aus), das die ganze Sache sehr verständlich auseinandersetzt.“ 23
Nach dem Frühstück ging der Vikar in den kleinen Raum neben dem Arbeitszimmer, um für den Engel ein Buch über Volkswirtschaftslehre zu finden. Denn des Engels Unwissenheit gesellschaftliche Fragen betreffend war eindeutig bodenlos. Die Tür stand halb offen.
„Was ist das?“ fragte der Engel und folgte ihm. „Eine Violine!“ Er nahm sie herunter.
„Spielen Sie?“ fragte der Vikar.
Der Engel hatte den Bogen in der Hand, statt einer Antwort strich er damit über die Saiten.
Die Schönheit des Klanges veranlaßte den Vikar, sich plötzlich umzudrehen.
Die Hand des Engels umfaßte das Instrument. Der Bogen glitt zurück und flatterte, und eine Melodie, wie sie der Vikar nie zuvor gehört hatte, ertönte. Der Engel schob die Geige unter sein zartes Kinn und spielte weiter, und als er so spielte, fingen seine Augen zu leuchten an, und auf seinen Lippen lag ein Lächeln.
Zuerst blickte er auf den Vikar, dann wurde er nachdenklich. Er schien den Vikar nicht mehr zu sehen, sondern durch ihn hindurch etwas Jenseitiges zu erblicken, etwas, das in seinem Gedächtnis oder seiner Vorstellungskraft existierte, etwas unendlich Fernes, etwas bisher nie Geahntes ...
Der Vikar versuchte, der Musik zu folgen. Die Weise erinnerte ihn an eine Flamme, sie jagte empor, leuchtete, flackerte und tanzte, verging und erschien wieder. Nein! – Sie erschien nicht wieder! Eine andere Weise – gleich und doch nicht gleich, schoß nach der ersten empor, taumelte, verschwand. Dann eine andere, dieselbe und nicht dieselbe. Sie erinnerte ihn an die flackernden Feuerzungen, die über einem neu entfachten Feuer schlagen und sich verändern. Es gibt zwei Weisen – oder Motive, welches ist es? – dachte der Vikar. Er wußte entschieden zu wenig über musikalische Techniken. Die Töne tanzen hinauf, einer jagt den anderen, lösen sich aus dem Feuer der Magie, in endloser Jagd, taumelnd, sich wandelnd, hinauf in den Himmel. Da unten brannte das Feuer, eine Flamme ohne Brennmaterial über einem ebenen Raum, und dort zwei kokettierende Schmetterlinge aus Klang, die davon wegtanzen, hinauf, einer über dem anderen, schnell, hastig, zitternd.
Kokettierende Schmetterlinge waren sie!
Woran dachte der Vikar? Wo war er? Im kleinen Raum neben seinem Arbeitszimmer natürlich! Und der Engel, der vor ihm stand, lächelte ihn an, spielte die Violine und blickte durch ihn hindurch, als wäre er nur ein Fenster. Da war wieder dieses Motiv, ein gelbes Flackern, durch einen Windstoß aufgefächert, und jetzt geschlossen, dann fährt die andere in schnellen Wirbeln empor, die zwei Formen aus Feuer und Licht jagen einander wieder hoch in die klare Unendlichkeit.
Das Arbeitszimmer und die Wirklichkeiten des Lebens verblaßten plötzlich vor den Augen des Vikars, wurden immer schwächer, wie Nebel, der sich in Luft auflöst, und er und der Engel standen zusammen auf einem Gipfel aufwühlender Musik, über dem
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