Der Besucher - Roman
hüllte sie fest in eine Wolldecke. Doch während sie das tat, fing sie selbst an zu zittern und hatte plötzlich das Gefühl, sie hätte unvorstellbare Lasten gehoben. Als ihre Mutter versorgt war, sank sie kraftlos auf einen Stuhl.
Während der nächsten zehn Minuten hörte man in der Küche bloß die prasselnden Flammen im Ofen, das lauter werdende Blubbern des kochenden Wassers und das Klappern von Porzellan und Blech, während Betty herumging, Schüsseln vorbereitete und Handtücher zusammensuchte. Dann rief das Mädchen leise nach Mrs. Ayres und half ihr zur Spüle hinüber, um ihr dort Hände, Gesicht und Füße zu waschen. Danach half sie Caroline beim Waschen und warf schließlich auch einen fragenden Blick auf Rod. Der hatte sich inzwischen wieder so weit beruhigt, dass er begriff, was von ihm erwartet wurde, und stolperte gleichfalls zur Spüle. Seine Bewegungen glichen denen eines Schlafwandlers; er hielt die Hände schlaff in die Wasserschüssel und ließ sie von Betty einseifen und abspülen, dann stand er passiv da und starrte mit leerem Blick vor sich hin, während sie ihm die Rußspuren aus dem Gesicht wischte. Sein teerverklebtes Haar widerstand jedoch allen Reinigungsversuchen. Schließlich griff Betty zu einem Kamm, sammelte die ausgekämmten Klümpchen öliger Asche in einer Zeitung, rollte diese dann zusammen und legte sie auf das Abtropfbrett. Als sie fertig war, trat Rod stumm zur Seite, damit sie das schmutzige Wasser in den Abfluss kippen konnte. Er schaute durch die Küche zu seiner Schwester hinüber. Sein Gesichtsausdruck sei derartig ängstlich und verwirrt gewesen, sagte Caroline, dass sie es nicht habe ertragen können. Sie wandte den Blick ab und wollte wieder zu ihrer Mutter gehen.
Dann passierte etwas höchst Seltsames. Caroline war gerade einen Schritt auf den Tisch zugegangen, als sie aus dem Augenwinkel sah, wie ihr Bruder eine Bewegung machte – irgendetwas ganz Gewöhnliches, als habe er die Hand ans Gesicht gehoben, um sich die Wange abzuwischen. Im gleichen Moment bewegte sich auch Betty – sie drehte sich kurz von der Spüle weg, um ein Handtuch in einen Eimer am Boden zu werfen. Doch als Betty sich wieder zurückwandte, sog sie hörbar die Luft ein. Caroline blickte genauer hin und entdeckte zu ihrer Verblüffung gleich hinter ihrem Bruder plötzlich neue Flammen. »Roddie!«, schrie sie erschrocken. Er wandte sich um, sah die Flammen und sprang zur Seite. Auf dem hölzernen Abtropfbrett, gleich neben der Stelle, an der er gerade gestanden hatte, brannte ein kleines Feuer. Es handelte sich um die Zeitung, in der Betty Ruß und Asche aus Rodericks Haaren gesammelt hatte. Sie hatte sie zu einem lockeren Ball zusammengerollt – und nun hatte das Papier auf irgendeine unerklärliche Weise Feuer gefangen.
Natürlich war die brennende Zeitung nichts im Vergleich zu dem beängstigenden Inferno, das sie zuvor in Rodericks Zimmer bekämpft hatten. Caroline lief rasch durch die Küche und schlug das brennende Knäuel in die Spüle. Die Flammen loderten kurz auf und gingen dann rasch wieder zurück; das schwarz verbrannte, hauchzarte Papier hielt noch einen Moment lang seine Form, ehe es in sich zusammenfiel. Doch das Verblüffende an der Sache war, wie die Zeitung überhaupt hatte in Brand geraten können. Mrs. Ayres und Caroline blickten einander an; ihre Nerven lagen blank. »Was hast du gesehen?«, fragten sie Betty, und das Mädchen antwortete mit ängstlichem Blick: »Ich weiß nich, Miss. Ich hab nix gesehen! Bloß Rauch und die Flammen, auf einmal waren sie hinter Mr. Roderick!«
Betty schien ebenso perplex zu sein wie die beiden Frauen. Nachdem sie einen Augenblick nachgedacht hatte, äußerte sie zweifelnd die Vermutung, dass vielleicht ein Ascheklümpchen aus Rodericks Haar noch Glut in sich getragen hatte und in der trockenen Zeitung wieder aufgeflammt war. Das war natürlich ein höchst beunruhigender Gedanke. Daraufhin blickten sich alle nervös um und fürchteten schon, dass womöglich noch irgendwo anders wieder Flammen entstehen könnten. Vor allem Roderick war zutiefst beunruhigt und einer Panik nahe. Als seine Mutter vorschlug, dass sie selbst, Caroline und Betty zur Sicherheit noch einmal in Rodericks Zimmer hinaufgehen und in der Asche herumstochern sollten, schrie er, sie dürften ihn auf keinen Fall alleinlassen. Er habe Angst, allein zu bleiben. Er »könne es nicht aufhalten«. Aus Angst, er könnte endgültig zusammenbrechen, nahmen sie ihn daher
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