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Der Besucher - Roman

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Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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schließlich mit. Sie setzten ihn auf einen Stuhl, der das Feuer unbeschadet überstanden hatte – und dort hockte er dann mit angezogenen Beinen, die Hand vor den Mund gepresst, und blickte sich gehetzt um, während die Frauen erschöpft eine verkohlte Stelle nach der anderen kontrollierten. Doch nichts regte sich mehr, alles war kalt und schmutzig. Erst kurz vor Morgengrauen gaben sie ihre Suche auf.
     
    Ich erwachte ein, zwei Stunden später, wie gerädert von meinen schlechten Träumen, aber noch ohne jede Ahnung, welch schreckliche Katastrophe Hundreds Hall in der Nacht beinahe verschlungen hätte; tatsächlich erfuhr ich erst von dem Feuer, als mir einer meiner Patienten in der Abendsprechstunde davon erzählte. Er hatte es seinerseits von einem Lieferanten gehört, der am Morgen beim Haus gewesen war. Zuerst wollte ich ihm gar nicht glauben. Es schien mir ein Ding der Unmöglichkeit, dass die Familie etwas so Schreckliches durchlitten hatte, ohne mir auch nur ein Wort davon zu sagen. Dann erwähnte ein weiterer Patient das Feuer, als sei es inzwischen allgemeint bekannt. Immer noch zweifelnd rief ich Mrs. Ayres an, und sie bestätigte zu meinem Schrecken die ganze Geschichte. Sie klang so heiser und erschöpft, dass ich bedauerte, sie nicht zu einem früheren Zeitpunkt angerufen zu haben, denn dann hätte ich noch nach Hundreds Hall hinausfahren können. Nun aber war keine Zeit mehr: Seit kurzem arbeitete ich einen Abend pro Woche im Bezirkskrankenhaus – und heute war einer dieser Abende, und ich konnte unmöglich wegbleiben. Mrs. Ayres versicherte mir, dass es ihr, Caroline und Roderick gut ginge, sie seien lediglich ein wenig erschöpft. Sie sagte, das Feuer habe sie alle »ein wenig erschreckt«. Genau das war ihre Formulierung, und vielleicht stellte ich mir den Brand deshalb eher als eine Bagatelle vor. Ich konnte mich nur zu gut erinnern, in welchem Zustand Roderick sich befunden hatte, als ich gegangen war. Ich dachte daran, wie eigensinnig er sein Glas auf den Tisch geknallt hatte und wie achtlos er den brennenden Zeitungsfetzen hatte auf den Boden fallen lassen. Daher nahm ich an, dass er wohl mit einer Zigarettenkippe ein Feuerchen entfacht hatte … Allerdings war mir klar, dass selbst ein kleines Feuer reichlich Rauch produzieren kann. Und ich wusste auch, dass die Auswirkungen einer Rauchinhalation meistens erst ein oder zwei Tage nach dem eigentlichen Brand am schlimmsten sind. Als ich zu Bett ging, machte ich mir daher Sorgen um die Familie und verbrachte eine weitere unruhige Nacht.
    Nachdem ich meine vormittäglichen Hausbesuche erledigt hatte, fuhr ich nach Hundreds Hall, und wie ich es schon befürchtet hatte, litten alle an den Folgen des Rauches. Rein körperlich waren Betty und Roderick am wenigsten betroffen. Betty hatte sich während des Feuers in der Nähe der Zimmertür aufgehalten und war zur Toilette und wieder zurück gerannt, um Wasser zu holen. Roderick hatte auf seinem Bett gelegen und nur flach geatmet, während sich der Rauch vor allem weiter oben an der Zimmerdecke sammelte. Mrs. Ayres dagegen fühlte sich inzwischen ziemlich elend, sie war schwach, hatte Atemprobleme und lag in ihrem Zimmer – und Caroline sah schrecklich aus und hörte sich ebenso schrecklich an. Ihre Kehle war geschwollen, die Haare versengt, und an Gesicht und Händen hatte sie leichte Verbrennungen von umherfliegenden Funken. Als sie mir die Haustür öffnete, war ich so erschrocken über ihren Anblick, dass ich meine Tasche abstellte, Caroline bei den Schultern fasste und genauer betrachtete.
    »Oh, Caroline!«, rief ich aus.
    Sie lächelte verlegen, doch in ihren Augen sammelten sich Tränen. »Ich sehe aus wie eine Guy-Fawkes-Puppe, die man im letzten Moment vom Scheiterhaufen gezogen hat!«
    Sie wandte sich ab und hustete. »Gehen Sie rein, um Himmels willen«, rief ich. »Bloß raus aus der Kälte!«
    Während ich meine Tasche wieder an mich nahm und ihr ins Hausinnere folgte, hatte ihr Husten nachgelassen; sie hatte sich das Gesicht abgewischt und die Tränen waren verschwunden. Ich zog die Tür hinter mir zu und war schockiert über den furchtbaren Brandgeruch, der mir schon in der Eingangshalle entgegenschlug, ebenso wie über das Aussehen der Halle selbst, denn sämtliche Oberflächen waren mit einem dicken, schmierigen Rußschleier bedeckt.
    »Furchtbar, nicht wahr?«, sagte Caroline, die meinem Blick gefolgt war, mit heiserer Stimme. »Und es wird noch schlimmer, fürchte ich. Kommen Sie

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