Der Besucher - Roman
Kopf.
»Zwei so vernünftige Menschen, wie wir es sind«, murmelte sie. »Das wäre doch eher unwahrscheinlich, oder?«
Da ihr Gesicht im Halbschatten lag, konnte ich ihre Miene nicht erkennen. Ihre Stimme klang leise, aber fest; ich glaube nicht, dass sie mich mit ihrer Antwort necken wollte. Dennoch musste sie wohl dort an der Treppe auf mich gewartet haben; und plötzlich wurde mir klar, dass sie wohl immer noch wartete – darauf, dass ich die Treppen zu ihr hinaufstieg und die Sache weitertrieb, so dass kein Zweifel, kein Missverständnis mehr bestehen konnte. Doch als ich den Fuß auf die unterste Stufe setzte, erschien ein erschrockener Ausdruck auf ihrem Gesicht; so viel konnte ich selbst im Halbdunkel sehen. Rasch wich sie einen Schritt zurück, als könne sie nicht anders.
Folglich blieb mir nichts anderes übrig, als wieder den Rückzug anzutreten. »Ja, im Moment wäre das sicher sehr unwahrscheinlich«, sagte ich nicht besonders herzlich, setzte meinen Hut auf und verließ das Haus durch die verzogene Vordertür.
Kaum hatte ich Hundreds Hall hinter mir gelassen, begann ich sie schon zu vermissen, doch dieses Gefühl ärgerte mich eher, und eine Art Starrsinn oder Überdruss hielt mich davon ab, ihr weiter nachzujagen. Ein paar Tage hielt ich mich gänzlich vom Herrenhaus fern; lieber nahm ich den weiten Weg um den Park herum und verschwendete dabei jede Menge Benzin. Doch dann begegnete ich ihr und ihrer Mutter unverhofft in Leamington auf der Straße. Sie waren in den Ort gefahren, um ein paar Einkäufe zu erledigen. Ich entdeckte sie zu spät und konnte nicht mehr so tun, als hätte ich sie nicht gesehen, daher blieben wir stehen und unterhielten uns ein paar Minuten lang ziemlich verkrampft. Caroline trug wieder diese unvorteilhafte Wollmütze, in Kombination mit einem eitergelben Schal, den ich an ihr noch nie gesehen hatte. Sie wirkte blass und unnahbar, und nachdem der erste Schreck über unsere Begegnung abgeklungen war, nahm ich bekümmert wahr, dass zwischen uns kein Funken übersprang und keinerlei besondere Zuneigung zu sein schien. Sie hatte offenbar mit ihrer Mutter gesprochen, die meinen letzten Besuch mit keinem Wort erwähnte; im Gegenteil: Wir benahmen uns alle drei, als hätte dieser Besuch niemals stattgefunden. Als sie weitergingen, hob ich meinen Hut zum Gruß, wie ich es bei jedem flüchtigen Bekannten auf der Straße getan hätte. Dann machte ich mich missmutig auf den Weg ins Krankenhaus und brach – wenn ich mich recht erinnere – einen fürchterlichen Streit mit der grimmigsten Oberschwester vom Zaun.
Während der nächsten Tage steckte ich meine ganze Energie in die Patientenbesuche und erlaubte mir keinerlei Zeit zum müßigen Herumgrübeln. Dann ergab sich ein für mich glücklicher Umstand: Die Arbeitsgruppe, an der ich teilgenommen hatte, sollte ihre Ergebnisse auf einer Konferenz in London präsentieren; der Mann, der den Vortrag ursprünglich halten sollte, wurde krank, und man bat mich, an seiner Stelle zu kommen. Da die Situation zwischen Caroline und mir so verworren war, ergriff ich die Gelegenheit dankbar beim Schopf. Die Konferenz war recht lang, und im Rahmen des Themas sollte ich auch einige Tage als Beobachter auf einer Station in einem Londoner Krankenhaus hospitieren, und so gönnte ich mir zum ersten Mal in etlichen Jahren eine regelrechte Auszeit aus meiner Praxis. Meine Patienten verwies ich an Graham und unseren Stellvertreter Wise. Am fünften Februar brach ich nach London auf und war alles in allem beinahe zwei Wochen aus Warwickshire fort.
Meine Abwesenheit konnte in rein praktischer Hinsicht eigentlich kaum Auswirkungen auf das Leben in Hundreds Hall gehabt haben, denn auch sonst war es mir oftmals über längere Zeiträume nicht möglich, dem Haus einen Besuch abzustatten. Doch später erfuhr ich, dass man mich dort vermisst hatte. Vermutlich war die Familie inzwischen daran gewöhnt, dass ich im Hintergrund bereitstand und jederzeit vorbeikommen konnte, wenn sie mich anriefen. Meine regelmäßigen Besuche hatten bei Mrs . Ayres und Caroline das Gefühl der Isolation gemildert, und nun brach es wieder mit ganzer Kraft über sie herein. Auf der Suche nach Ablenkung hatten sie einen Nachmittag in Lidcote bei Bill und Helen Desmond verbracht, gefolgt von einem Abend bei der ältlichen Miss Dabney. An einem anderen Tag fuhren sie nach Worcestershire, um ein paar alte Freunde der Familie zu besuchen. Doch auf dieser Fahrt verbrauchten sie einen
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