Der Besucher - Roman
Anzeige zurückzuziehen, vorausgesetzt, Gyp werde unverzüglich getötet. Sie schien darüber sehr erleichtert zu sein, und ich war froh, dass die Dinge so beigelegt worden waren. Trotzdem verbrachte ich eine schlaflose Nacht und musste ständig daran denken, was ich ihr für den folgenden Tag versprochen hatte. Als ich gegen drei Uhr endlich in eine Art normalen Schlaf fiel, wurde ich vom Schellen der Nachtglocke an meiner Praxistür wieder geweckt. Ein Mann war aus dem Nachbardorf herübergerannt und bat mich, nach seiner Frau zu sehen, die in den Wehen lag. Ich zog mich an und fuhr ihn nach Hause. Die Frau war eine Erstgebärende, und die Entbindung verlief einigermaßen kompliziert, doch gegen halb sieben war alles vorüber; das Baby hatte zwar von der Geburtszange Druckstellen an den Schläfen, war aber sonst gesund und munter. Der Mann musste um sieben wieder auf dem Feld sein, daher ließen wir Mutter und Kind in der Obhut der Hebamme, und ich nahm ihn bis zu seiner Farm mit. Fröhlich pfeifend machte er sich auf den Weg zur Arbeit, hocherfreut darüber, dass das Kind ein Junge war, denn die Frauen seiner Brüder hatten, wie er mir erzählte, »bloß Mädelein« produzieren können.
Ich freute mich für ihn und empfand das leicht euphorische Gefühl, das sich stets nach einer erfolgreichen Entbindung einstellt, vor allem, wenn sie von Schlafmangel begleitet wird. Doch als ich mich wieder an die Aufgabe erinnerte, die mich auf Hundreds erwartete, war die freudige Erregung dahin. Ich wollte nicht erst nach Lidcote zurück- und dann noch einmal wieder herausfahren; daher bog ich mit dem Auto auf einen Weg ab, der, wie ich wusste, durch den Wald zu einer kleinen Lichtung an einem dicht bewachsenen Teich führte. Diese malerische Stelle war im Sommer ein beliebter Treffpunkt für Liebespaare. Doch sie war auch, wie mir leider zu spät einfiel, im Krieg Schauplatz eines Selbstmords gewesen, und der Anblick der düsteren Wasserfläche und der feuchten, bläulichbraunen Bäume stimmte mich schwermütig. Ich hielt an und schaltete den Motor ab, doch es war zu kalt, um auszusteigen. Ich zündete mir eine Zigarette an, kurbelte das Fenster herunter und verschränkte die Arme gegen die Kälte. Früher hatte ich hier gelegentlich Reiher und balzende Zwergtaucher gesehen, doch heute schien der Teich wie ausgestorben. Ein einsamer Vogel rief von einem Ast, rief noch einmal, doch niemand antwortete ihm. Dann begann es zu nieseln, und wie aus dem Nichts kam eine Brise auf und trieb mir die feinen Tropfen gegen die Wange. Ich drückte meine Zigarette aus und kurbelte das Fenster hastig wieder hoch.
Ein paar Meilen die Straße entlang lag die Abzweigung, die mich zum westlichen Parktor von Hundreds Hall führen würde. Ich wartete noch bis kurz vor acht, dann ließ ich den Motor an und fuhr los.
Inzwischen hatten sie die Kette und das Schloss wieder vom Tor entfernt, so dass ich ohne Probleme in den Park fahren konnte. Im offenen Parkgelände war es heller als auf den Waldwegen, doch das Haus, das von Westen her schon aus einiger Entfernung zu sehen war, wirkte in der trüben Morgendämmerung riesig und massiv, wie ein großer, dunkler Klotz. Ich wusste allerdings, dass die Familie früh aufstand, und als ich näher fuhr, konnte ich auch Rauch aus einigen Schornsteinen aufsteigen sehen. Und als ich den hinteren Teil des Hauses umrundet hatte und meine Räder über den Kies vor dem Portal knirschten, sah ich neben der Eingangstür ein Licht angehen.
Ehe ich die Tür ganz erreicht hatte, wurde sie schon von Mrs. Ayres geöffnet. Sie sah blass aus.
»Ich bin doch nicht zu früh?«, erkundigte ich mich.
Sie schüttelte den Kopf. »Uns ist das einerlei. Roderick ist schon drüben auf dem Hof. Ich glaube, keiner von uns hat heute Nacht richtig geschlafen. Und Sie offenbar auch nicht, wenn ich Sie so anschaue. Ich hoffe doch, dass es keinen Todesfall gegeben hat?«
»Eine Entbindung.«
»Geht es dem Baby gut?«
»Mutter und Kind sind beide wohlauf … Wo ist Caroline?«
»Oben, mit Gyp. Ich vermute, sie hat Ihr Auto gehört.«
»Haben Sie sie vorgewarnt? Sie weiß doch hoffentlich, warum ich komme?«
»Ja, das weiß sie.«
»Wie hat sie es aufgenommen?«
Sie schüttelte wieder den Kopf, sagte aber nichts weiter. Sie führte mich zum kleinen Salon und ließ mich dort neben den prasselnden Scheiten sitzen. Als sie zurückkam, trug sie ein Tablett mit Tee, Brot und kaltem Schinken und stellte es neben mich. Sie setzte sich
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