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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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kleine Mädchen sei »auf grausame Weise« angefallen worden, mache aber gute Fortschritte. Die Eltern drängten darauf, dass der betreffende Hund getötet werde, und hätten schon Rechtsbeistand gesucht. Mrs. Colonel Ayres, Mr. Roderick Ayres und Miss Caroline Ayres, die Halter des Hundes, seien »nicht zu sprechen« gewesen.
    Meines Wissens bezog man auf Hundreds keine Zeitungen aus Coventry, aber in der übrigen Grafschaft waren sie weit verbreitet, und daher beunruhigte mich dieser Artikel über den Fall sehr. Ich rief auf Hundreds Hall an und erkundigte mich, ob sie die Zeitung schon gesehen hätten; das hatten sie nicht, und daher brachte ich ihnen auf meinem Heimweg ein Exemplar vorbei. Roderick las den Artikel mit grimmigem Gesichtsausdruck und reichte ihn dann an seine Schwester weiter. Sie überflog den Bericht, und zum ersten Mal seit Beginn der ganzen Angelegenheit schien ihre Zuversicht zu schwinden, und ich sah echte Angst auf ihrem Gesicht. Mrs. Ayres war entsetzt. Während des Krieges hatte es ein gewisses Interesse der Zeitungen an Rodericks Verletzungen gegeben, und ich vermute, das hatte bei ihr eine Art krankhafte Angst vor Berichterstattungen hinterlassen. Zum ersten Mal begleitete sie mich zu meinem Wagen, als ich fahren wollte, denn sie wollte mit mir sprechen, ohne dass ihre Kinder es hörten.
    Während sie sich ihr Tuch um das Haar band, sagte sie leise: »Ich muss Ihnen noch etwas sagen. Caroline und Roderick habe ich bisher noch nichts davon erzählt. Chief Inspector Allam hat mich heute Vormittag angerufen und mir mitgeteilt, dass Mr. Baker-Hyde Anzeige erstatten will. Der Chief Inspector wollte mich warnen; er und mein Mann waren im selben Regiment, müssen Sie wissen. Er hat ziemlich deutlich gemacht, dass wir in einem Fall wie diesem, bei dem ein Kind beteiligt ist, nur eine sehr geringe Chance haben, ein Verfahren zu gewinnen. Ich habe auch schon mit Mr. Hepton gesprochen« – Mr. Hepton war der Anwalt der Familie –, »und er hat das Gleiche gesagt. Er meinte auch, dass wir möglicherweise nicht bloß ein Bußgeld zahlen, sondern auch noch mit Schadenersatzforderungen rechnen müssen … Ich kann gar nicht glauben, dass es so weit kommen musste! Mal abgesehen von allem anderen haben wir doch gar nicht das Geld für ein Gerichtsverfahren. Ich habe versucht, Caroline auf das Schlimmste vorzubereiten, doch sie will mir gar nicht zuhören. Ich verstehe sie einfach nicht. Das Ganze nimmt sie mehr mit als die Kriegsverletzung ihres Bruders damals!«
    Ich verstand Caroline genauso wenig. Doch ich sagte: »Gyp bedeutet ihr nun mal sehr viel.«
    »Er bedeutet uns allen viel! Doch letztendlich ist er nur ein Hund – noch dazu ein ziemlich alter. Ich kann doch nicht zusehen, wie unsere Familie vor Gericht gezerrt wird. Weniger meinetwegen als vielmehr wegen Roderick. Es geht ihm immer noch nicht gut. Das ist das Letzte, was er gebrauchen kann.«
    Sie legte mir die Hand auf den Arm und blickte mich eindringlich an. »Sie haben schon so viel für uns getan, Herr Doktor, dass ich mich kaum getraue, Sie um einen weiteren Gefallen zu bitten. Aber ich möchte weder Bill Desmond noch Raymond Rossiter in diese Geschichte hineinziehen. Wenn es nun doch dazu kommen sollte, mit Gyp, meine ich … Würden Sie uns vielleicht helfen?«
    »Ihn einzuschläfern, meinen Sie?«, fragte ich in böser Vorahnung.
    Sie nickte. »Ich will das nicht von Roderick verlangen, und es steht ganz außer Frage, dass Caroline …«
    »Nein, natürlich nicht.«
    »Ich weiß einfach nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Wenn der Colonel noch leben würde …«
    »Ja, natürlich«, antwortete ich widerstrebend, denn ich hatte das Gefühl, dass mir kaum etwas anderes übrig blieb. Und dann wiederholte ich noch einmal, etwas nachdrücklicher: »Ja, natürlich helfe ich Ihnen.«
    Ihre Hand ruhte immer noch auf meinem Arm. Nun legte ich meine Hand auf ihre, und sie neigte erleichtert und dankbar den Kopf, während müde Falten ihr ehemals straffes Gesicht überzogen und sie beinahe ältlich wirken ließen.
    »Aber meinen Sie denn, dass Caroline es zulassen wird?«, fragte ich, als sie ihre Hand zurückzog.
    Sie erwiderte nur: »Das wird sie schon, um der Familie willen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
     
    Und diesmal sollte sie recht behalten. Sie rief mich am Abend an, um mir mitzuteilen, dass Chief Inspector Allam noch einmal mit den Baker-Hydes geredet hatte und sie nach einigem Hin und Her eingewilligt hatten, die

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