Der Besucher - Roman
anderen, die ihm nahestanden, zu hassen. Ach, wenn ich an all die jungen Männer wie ihn denke und an die schrecklichen Dinge, die wir von ihnen verlangt haben, alles im Namen des Friedens!«
Ich sagte beruhigend: »Nun, jetzt ist alles vorüber. Er ist immer noch jung. Er wird sich wieder erholen.«
»Aber Sie haben ihn gestern Abend nicht gesehen!«, sagte sie. »Ich habe Angst, Herr Doktor. Wenn er wieder krank wird, was soll dann nur passieren? Wir haben doch hier schon so viel verloren. Meine Kinder versuchen, das Schlimmste von mir fernzuhalten, aber ich bin schließlich nicht dumm. Ich weiß, dass das Anwesen von seinem Kapital zehrt, und ich weiß auch, was das bedeutet. Aber wir haben noch andere Dinge verloren. Wir haben Freunde verloren, unser Ansehen in der Gesellschaft eingebüßt. Wenn ich Caroline anschaue, kommt es mir so vor, als würde sie von Tag zu Tag nachlässiger und exzentrischer werden. Eigentlich geschah es bloß um ihretwillen, dass ich überhaupt zu dieser Gesellschaft eingeladen habe. Doch es war eine Katastrophe, wie alles andere auch … Was wird sie für eine Zukunft haben, wenn ich mal nicht mehr bin? Wenn sie auch noch ihren Bruder verlieren sollte? – Und wenn ich mir jetzt noch vorstelle, dass diese Leute die Polizei einschalten wollen! Ich weiß gar nicht … Ich weiß einfach nicht, wie ich das ertragen soll!«
Ihre Stimme hatte fest geklungen, doch nun geriet sie ins Zittern und überschlug sich. Sie legte die Hand vor die Augen, um ihr Gesicht vor mir zu verbergen.
Als ich später darüber nachdachte, wurde mir klar, wie schwer die Last war, unter der sie so viele Jahre gelebt hatte: der Tod eines Kindes, der Tod des Ehemannes, die Entbehrungen des Krieges, ihr kriegsversehrter Sohn, der Verlust von Grundbesitz … Doch sie hatte diese Belastung äußerst erfolgreich hinter einem Schleier aus guter Erziehung und Charme verborgen, und zu sehen, wie sie jetzt ihre Selbstbeherrschung verlor und ganz offen weinte, war schockierend. Einen Moment blieb ich wie gelähmt sitzen, dann erst hockte ich mich neben ihren Sessel und nahm nach kurzem Zögern ihre Hand – nahm sie einfach, ungezwungen und fest, wie es jeder Arzt getan hätte. Ihre Finger schlossen sich um meine, und allmählich beruhigte sie sich. Ich bot ihr mein Taschentuch an, und sie tupfte sich verlegen die Augen damit ab.
»Nicht auszudenken, wenn jetzt eines der Kinder reinkäme!«, sagte sie und blickte besorgt über die Schulter zur Tür. »Oder gar Betty! Ich könnte es nicht ertragen, wenn man mich so sieht! Ich habe meine Mutter niemals weinen sehen; für heulende Frauen hatte sie immer nur Verachtung übrig. Bitte verzeihen Sie mir, Dr. Faraday. Es ist bloß so, dass ich in der letzten Nacht kaum geschlafen habe, und Schlafmangel ist mir noch nie gut bekommen … Meine Güte, und wie ich wohl jetzt aussehe, zum Fürchten wahrscheinlich! Bitte tun Sie mir doch den Gefallen und schalten die Lampe aus.«
Ich schaltete die Lampe aus, die sie meinte, eine reich mit Lüstern behängte Leselampe, die auf dem Tisch neben ihrem Sessel stand. Als das Klingen der Lüstersteine verstummt war, sagte ich: »Sie brauchen das Licht nun wirklich nicht zu fürchten. Das haben Sie gar nicht nötig.«
Sie tupfte sich wieder das Gesicht ab, aber blickte mich mit müder Überraschung an. »Ich wusste gar nicht, dass Sie so galant sein können, Herr Doktor.«
Ich merkte, wie ich ein wenig errötete. Doch ehe ich etwas erwidern konnte, seufzte sie und sprach weiter.
»Ach ja, die Männer entwickeln mit zunehmendem Alter Galanterie, während die Frauen bloß Falten im Gesicht bekommen! Mein Ehemann war sehr galant. Ich bin froh, dass er nicht mehr lebt und mich jetzt so sieht. Seine Galanterie würde auf eine harte Probe gestellt. Ich glaube, ich bin im letzten Winter um zehn Jahre gealtert. Wahrscheinlich werde ich in diesem Winter noch mal zehn Jahre älter!«
»Und selbst dann werden Sie noch aussehen wie kaum vierzig!«, sagte ich, worüber sie lachte, diesmal richtig herzlich, und ich war froh, dass Leben und Farbe wieder in ihr Gesicht zurückkehrten.
Danach wandte sich unser Gespräch alltäglicheren Dingen zu. Sie ließ mich ihr einen Drink einschenken und ihr eine Zigarette bringen. Erst als ich mich zum Gehen erhob, versuchte ich noch einmal, sie an den Grund zu erinnern, aus dem ich überhaupt gekommen war, und erwähnte Peter Baker-Hyde.
Ihre Antwort bestand darin, die Hand in einer abweisenden Geste zu heben,
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