Der Beutegaenger
Chips, davon bekommt er rote Flecken und stirbt. Weil da etwas drin ist, von dem man immer noch mehr essen muss . . .« Sie runzelte die Stirn. »Platzt man dann?«
Verhoeven hielt an der nächsten roten Ampel. »Was?« »Wenn man immer mehr Chips isst.«
»Keine Ahnung«, entgegnete er. Und an Winnie Heller gewandt, fügte er hinzu: »Eine anstrengende Phase.«
Sie nickte. »Wie alt ist sie?«
»Vier.«
»Bald fünf«, krähte seine Tochter von der Rückbank. »Nächsten Sommer.«
»Kriege ich dann einen Hund?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil Mama das niemals erlauben wird.«
»Aber du?«
Peng, da hatte er’s! Sie war vier, aber sie legte ihre zarten Fingerchen mit der Unbarmherzigkeit eines Oberlehrers auf den wunden Punkt seiner Formulierung. Wir müssen an einem Strang ziehen, wenn das hier funktionieren soll, sagte Silvie oft, wobei »das hier« die Erziehung ihrer gemeinsamen Tochter umschrieb. Wir müssen uns einig sein, sonst tanzt sie uns auf der Nase herum ...
»Aber du erlaubst es, ja?«, insistierte seine Tochter, als Verhoeven schwieg, und er wusste, es war eine Feststellung, auch wenn sie es als Frage formuliert hatte. Ihm war auch klar, dass sie seine Antwort im Hinterkopf behalten würde, um sie notfalls gegen die Argumente ihrer Mutter zu verwenden. Vielleicht wird sie eines Tages auch mal Anwältin, dachte er mit einem Anflug von Gehässigkeit.
»Papa!«
»Mama ist diejenige, die das entscheiden muss, weil sie auch diejenige ist, die die Arbeit damit hat«, versuchte er es mit einem Kompromiss. »Mama muss das Haus putzen. Mama muss mit dem Hund Gassi gehen und . . . «
»Das könnte ich tun«, rief Nina eifrig.
»Vielleicht, wenn du etwas älter bist.«
»Aber ich bin alt«, widersprach sie.
Verhoeven sah, dass Winnie Heller auf dem Beifahrersitz Mühe hatte, nicht laut loszulachen. »Wir sprechen ein anderes Mal darüber, okay?«
Nina gab ein widerwilliges Brummen von sich.
Winnie Heller drehte sich zu ihr um. Seit sie das Foto in seiner Brieftasche gesehen hatte, war sie entschlossen gewesen, Verhoevens Familie furchtbar zu finden, damit die Mauer, die sie zwischen sich und ihm errichtet hatte, nicht ins Wanken geriet. Aber dieses Kind dort, mit seinen riesigen braunen Augen und dem wachen Blick, hatte sie buchstäblich im Sturm erobert. »Darfst du ein Karamellbonbon vor dem Essen?«
Neben ihr nickte Verhoeven, noch bevor seine Tochter »Jaaaa« krähen konnte.
»Danke, Winnie.«
»Keine Ursache.« Sie nestelte zwei weitere Bonbons aus der Tasche ihres Parkas. »Möchten Sie auch eins?«
»Gern.«
»Okay.« Sie zögerte. »Soll ich’s für Sie auspacken?«
»Ich glaube, das kriege ich hin.« Verhoeven streckte ihr die Hand entgegen.
Winnie Heller legte das Bonbon hinein und kam sich wie eine Zoologin vor, irgendeine von diesen Gorilla-Forscherinnen, die vor Staunen kaum zu atmen wagt, bloß weil das Alpha-Männchen, der Silberrücken, eine angebotene Leckerei angenommen hat. Sie schielte nach links, wo es Verhoeven tatsächlich gelungen war, sein Bonbon auszuwickeln. Ihr war aufgefallen, dass er sich anders verhielt, seit das Kind dabei war. Da war ein Leuchten in seinen Augen, das sie bislang noch nicht an ihm kannte. Zugleich wirkte er noch verspannter als sonst. Wie kann einer wie er eine Tochter haben, die so angstfrei und begierig in die Welt blickt?, dachte sie und sah wieder hinter sich. Suchte im Gesicht seines Kindes nach Ähnlichkeiten. Schnittmengen. Dieselbe Nase, ohne Zweifel. Andere Lippen vielleicht, aber die Augen waren einander recht ähnlich. Zumindest von der Form her. Die Erkenntnis verwunderte sie, und sie fragte sich, ob Verhoeven seine Umgebung jemals mit der gleichen Unerschrockenheit betrachtet hatte wie seine Tochter. Und was passiert war, um ihn zu dem zaudernden Duckmäuser werden zu lassen, für den sie ihn hielt.
»Kannst du auch Vogelhäuser bauen?«, wollte Nina bonbonlutschend wissen.
Winnie Heller dachte einen Augenblick nach. »Ich glaube nicht«, erwiderte sie.
»Papa kann«, rief das Mädchen eifrig.
»Tatsächlich?« Winnie Heller warf ihrem Vorgesetzten einen interessierten Seitenblick zu.
»Die ganz einfache Form«, versicherte dieser eilig. »Ein Boden, ein Dach und ein Einflugloch. Nicht diese Mike-Krüger-Variante, Sie wissen schon . . .« Er seufzte. »Aber es wird trotzdem ganz gut angenommen.«
Winnie Heller grinste.
»Man muss das Haus regelmäßig sauber machen, sonst werden die Vögel krank«, erklärte Nina
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