Der Beutegaenger
Tatsache, dass es sich bei diesem Kunden um ein großes Medienhaus handelte, rechtfertigte durchaus einen größeren persönlichen Einsatz. Bei großen Kunden bestand schließlich auch ein großer Bedarf an Mitarbeiterschulungen, und da konnte es durchaus von Vorteil sein, wenn man sich im Vorfeld eines Seminars ein wenig Mühe gab.
Uwe Dierck nahm einen Schluck von seinem Bier und zog die Teilnehmerliste aus der Tasche, die ihm der Geschäftsführer mitgegeben hatte. Er hatte vorhin einen kurzen Blick darauf geworfen und dabei einen Namen entdeckt, der ihn hatte stutzen lassen, weil sich viele persönliche Erinnerungen mitihm verbanden: Richard Jannsen. Sein Finger fuhr suchend über die Namen auf der Liste. Richard und er waren zusammen zur Schule gegangen, damals in Bielefeld, und wenngleich sie nie wirklich enge Freunde gewesen waren, hatten sie sich doch stets gut verstanden. Einmal waren sie sogar für ein paar Wochen zusammen in Irland gewesen. Eine Gruppe Austauschschüler in kurzen Hosen, bewaffnet mit billigen Fotoapparaten und rudimentären Sprachkenntnissen. Die Erinnerung an fünf unbeschwerte Wochen zwischen ulkigen Menschen und eigenartiger Marmelade zauberte ein Lächeln auf Uwe Diercks Lippen. Richard hatte früh seine Eltern verloren und war bei den Großeltern aufgewachsen, ein ernster, stiller Junge, hilfsbereit und rücksichtsvoll. Nach dem Abitur hatten sie einander allerdings aus den Augen verloren. Das Letzte, was er von Richard gehört hatte, war, dass dieser nach dem Zivildienst Psychologie studieren wollte, doch offenbar hatte er diesen Plan später aufgegeben, denn jetzt arbeitete er hier in Dortmund als Vertriebsleiter.
Natürlich konnte der Mann auf der Teilnehmerliste auch ein anderer Richard Jannsen sein, aber der Name war zumindest in dieser Schreibweise recht selten, und das Alter stimmte überein, wie Dierck in Erfahrung gebracht hatte. Zwar befand sich sein alter Freund augenblicklich auf einer Geschäftsreise, doch die Sekretärin in der Personalabteilung war sehr hilfsbereit gewesen. Sie hatte sich sogar erinnert, dass Herr Jannsen im vergangenen Jahr – ebenso wie Dierck selbst – seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert hatte.
Dierck hatte sich Richard Jannsens Telefonnummer geben lassen, damit er sich vor dem Seminar mit ihm in Verbindung setzen konnte. Vielleicht fand sich eine Gelegenheit, zusammen zu essen und Erinnerungen auszutauschen. An Irland.
Er überlegte einen Augenblick, dann griff er zu seinem Handy. Wenn es einen Anrufbeantworter gab, konnte er sichsofort Gewissheit verschaffen, denn die Stimme seines alten Freundes würde er unter Garantie wiedererkennen. Er tippte die Nummer ein und wartete.
Das Telefon klingelte einige Male ins Leere, dann wurde überraschenderweise abgehoben.
»Ja?«, meldete sich eine helle Mädchenstimme.
Dierck war einen Augenblick lang völlig perplex. Hatte er sich verwählt? »Wer ist denn da?«, erkundigte er sich vorsichtig.
»Ich!«, entgegnete das Mädchen am anderen Ende der Leitung und kicherte.
Dierck runzelte die Stirn. Um Kinder machte er gern einen großen Bogen. Sie rochen merkwürdig, er verstand selten oder nie, was sie sagten, und nicht zuletzt deshalb verunsicherten sie ihn. Darüber hinaus schienen ihn die meisten Kinder auch nicht besonders zu mögen. »Und wer bist du?«, versetzte er nicht eben freundlich, als ihm einfiel, dass das Kind am anderen Ende der Leitung Richards Tochter sein könnte, immer vorausgesetzt, er hatte die richtige Nummer gewählt. Halbherzig versuchte er ein Lächeln, um seiner Stimme mehr Wärme zu geben, eine Technik, die er in seinen Seminaren immer wieder predigte. »Ich wollte eigentlich mit Herrn Jannsen sprechen.« Er räusperte sich. »Richard Jannsen.«
Schweigen.
»Ist das vielleicht dein Papa?«
»Ja«, antwortete die Kleine knapp.
Sie kann mich nicht ausstehen, befand Dierck fatalistisch. Sollte er einfach auflegen?
»Mein Papa ist aber nicht da«, verkündete das Mädchen indessen ungefragt.
Das weiß ich, du altkluges Mistgör, dachte Dierck und beschloss, später im Zug noch einmal sein Glück zu versuchen. Wo ein Kind war, war auch eine Mutter. Und da dieseMutter ihre kleine Tochter vermutlich nicht den lieben langen Tag allein ließ, würde er sie früher oder später am Apparat haben. Dann konnte er sie fragen. Grüße ausrichten. Seine Nummer hinterlassen, damit Richard ihn zurückrufen konnte. Er nickte leise vor sich hin. Vielleicht war die arme Frau im Moment
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