Der Beutegaenger
einfach mit etwas anderem beschäftigt oder im Keller oder in der Küche bei einem störanfälligen Souffl´e.
»Hallo?«
Er schreckte aus seinen Gedanken hoch. »Ja?«
»Bist du noch dran?«
»Ja.«
»Wie heißt du denn?«, erkundigte sich das Kind am anderen Ende der Leitung mit plötzlichem Interesse.
»Uwe«, entgegnete er und fügte mechanisch hinzu: »Und du?«
»Jinka«, rief die Kleine triumphierend und unterbrach die Verbindung.
»Vielleicht war es . . .« Hedi Apsner biss sich auf die Unterlippe. »Ich meine, es könnte natürlich auch ein Zufall sein.«
Winnie Heller blickte sich nach dem Fenster um, das beschlug, obwohl sie es erst vor wenigen Minuten geschlossen hatte. Es regnete wieder. Dicke, schwerfällige Tropfen, die fast ein wenig nach Schnee aussahen. Verhoeven war noch immer in der Gerichtsmedizin, wo er der Obduktion von Isolde Reisingers Leiche beigewohnt hatte oder noch immer beiwohnte, und Winnie Heller fragte sich allmählich, ob es nicht angenehmer gewesen wäre, ihn zu begleiten. Warum waren neunundneunzig Prozent aller Frauen unfähig, einfache,klare Sätze zu bilden? Warum schränkten sie alles immer schon im Voraus ein und formulierten die elementarsten Dinge so vorsichtig, als fürchteten sie, für ein falsches Wort auf der Stelle erschossen zu werden? Ich glaube, also meiner Meinung nach könnte heute eventuell Donnerstag sein, meinen Sie nicht auch? Sie warf ihrem Gegenüber einen verächtlichen Blick zu. Man sollte gewissen Frauen den Gebrauch von einschränkenden Füllwörtern grundsätzlich untersagen, dachte sie. Das würde vieles erleichtern! Laut sagte sie: »Wir sind für jeden Hinweis dankbar. Erzählen Sie mir einfach alles, was Sie für wichtig halten.«
»Nun ja«, setzte ihre Zeugin erneut an. »Ich habe in der Zeitung über diese Frauenmorde gelesen.« Sie blickte die Kommissarin an. »So etwas macht einem doch richtig Angst, nicht?«
»Sicher«, entgegnete Winnie Heller knapp. Oh ja, selbstverständlich, das ist doch auch ganz natürlich wäre wahrscheinlich produktiver gewesen.
»Und in dem Artikel stand doch, dass der Täter bei seinem ersten Opfer eine Chrysantheme zurückgelassen hat, als eine Art Souvenir, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Na ja, und da ist mir wieder eingefallen, dass Frau Siemssen ... das ist meine Chefin, wissen Sie ... dass also Frau Siemssen neulich ausgerechnet wegen einem Strauß Chrysanthemen einen Wutanfall hatte. Und dabei neigt sie überhaupt nicht zu Ausbrüchen, müssen Sie wissen, eher im Gegenteil. Sie ist eine ziemlich unterkühlte Person.« Sie holte tief Luft und sah Winnie Heller an. »Aber als sie die Chrysanthemen auf der Theke im Studio gesehen hat, ist sie völlig von der Rolle gewesen, Frau Siemssen meine ich. Sie hat die Blumen noch am selben Tag in den Müll geworfen.«
»In dem Fitness-Studio, in dem Sie arbeiten, stand ein Strauß Chrysanthemen?«, resümierte Winnie Heller.
Hedi Apsner nickte. »Ja, auf der Theke an der Rezeption.« »Und wer hatte den Strauß dort hingestellt?«
»Das ist es ja gerade«, entgegnete Hedi Apsner aufgeregt. »Das haben wir einfach nicht herausbekommen. Dabei kann es eigentlich nur jemand gewesen sein, der einen Schlüssel für das Studio hat, denn die Blumen standen schon da, als ich morgens kam. Und dass am Abend vorher keine Chrysanthemen auf der Theke standen, weiß ich genau.«
»Kommt so etwas öfter vor? Dass jemand Blumen ins Studio stellt?«
»Nein.« Hedi Apsner schüttelte den Kopf. »Das ist noch nie vorgekommen. Und diese Chrysanthemen gehörten ja auch niemandem. Wie gesagt, wir haben überall herumgefragt. Und es hatte auch niemand Geburtstag.«
»Könnten die Blumen nicht doch geliefert worden sein?« »Nein.«
»Sind Sie sicher?«
Der Blick der anderen wurde eindringlich. »Sie waren einfach da .«
Winnie Heller runzelte die Stirn. »Welche Farbe hatten diese Chrysanthemen?«
»Gelb«, lautete die prompte Antwort.
»Okay«, sagte Winnie Heller und griff wieder nach ihrem Kugelschreiber. Draußen prasselte der Regen gegen die Scheibe. »Beschreiben Sie mir bitte noch einmal genau, wie Ihre Chefin auf diese Blumen reagiert hat.«
»Frau Siemssen kam gegen Mittag.« Hedi Apsner warf einen Blick auf ihre Hände, die verkrampft die Lehnen des Stuhls umklammerten. »Als sie die Chrysanthemen gesehen hat, ist sie kreidebleich geworden, und dann sagte sie irgendwas wie: Was soll das? Wer war das?, oder so ähnlich. Wir wussten zuerst gar nicht, was
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