Der Beutegaenger
ernsthaft, während ihr Vater an der nächsten roten Ampel halten musste und nervös auf seine Armbanduhr blickte.
»Sehen Sie’s einfach als verspätete Mittagspause«, schlug Winnie Heller vor, als sie merkte, dass ihm der Zeitverlust Sorgen machte.
Er sah kurz herüber und lächelte dankbar. »Okay.«
Rund zehn Minuten später hielten sie vor Verhoevens Zuhause. Seine Frau stand bereits in der Tür und kam eilig die Auffahrt herunter, als sie den Wagen sah. Sie war recht groß, dabei jedoch grazil wie eine Tänzerin, und trug ein petrolfarbenes Twinset zur grauen Marlenehose.
»Das ist Winnie«, rief ihre Tochter ihr entgegen. »Sie ist auch ein Bulle und sie hat ganz coole Haare.«
Winnie Heller ließ das Seitenfenster herunter und streckte Silvie Verhoeven die Hand entgegen. »Schön, Sie kennenzulernen.«
Silvie Verhoeven erwiderte ihr Lächeln. »Ganz meinerseits.« Sie öffnete die Autotür und löste den Gurt des Kindersitzes. »Ich würde Sie ja liebend gern hereinbitten, aber wie ich sehe, sind Sie in Eile.« Der Blick, mit dem sie ihren Mann bedachte, irritierte Winnie, ohne dass sie hätte sagen können, weshalb. »Na ja«, sie warf das halblange Blondhaar zurück, »vielleicht ein andermal.«
»Ja, sicher. Wiedersehen, Nina.«
»Wiedersehen, Winnie.«
Ihr Winken verschwand im Rückspiegel.
»Meine Frau ist der Ansicht, dass eine stärkere Einbindung in die Verantwortung für unsere Tochter hilfreich wäre, um mich von meinen irrationalen Verlustängsten zu befreien«, sagte Verhoeven, als sie an der nächsten Kreuzung hielten,und Winnie Heller fragte sich, ob er nur allgemein gesprochen oder soeben einen ganz bestimmten Verdacht mit ihr geteilt hatte.
Uwe Dierck nahm an einem kleinen Tisch direkt beim Fenster Platz und bestellte ein Bier. Bis zur Abfahrt seines Zuges hatte er noch eine gute halbe Stunde Zeit. Vor dem Fenster hasteten Menschen in schweren Wintermänteln vorbei. Rücken in Grau, Schwarz, Dunkelgrün. Hier und da ein Hut. Auf dem Bahnhofsvorplatz war bereits die Tanne für Weihnachten aufgestellt worden. Noch war sie ungeschmückt.
Die Bedienung, eine korpulente junge Frau in Gesundheitsschuhen, brachte das Bier und entzündete bei dieser Gelegenheit auch die rußschwarze Kerze auf dem Tisch, die in einem undefinierbaren Etwas aus rotem Stanniolpapier steckte. Uwe Dierck nickte ihr zu und beglich die Rechnung, um später gleich gehen zu können. Dann lehnte er sich zurück und sah wieder zum Fenster hinaus. Irgendwo in einem fernen Radio sang Liza Minelli Small World . Er wippte im Takt mit der Fußspitze und musste unwillkürlich lächeln. Recht hat sie, dachte er, die Welt ist tatsächlich ein Dorf! Noch immer lächelnd, schob er sein Bierglas zur Seite und wuchtete seine Aktentasche, die er auf einen der freien Stühle neben sich gestellt hatte, auf den Tisch. Das Seminar lief unter dem Titel »Verkaufsstrategien im Versandhandel – ein Leitfaden für Manager und Firmenrepräsentanten«. Ein guter, prägnanter Titel, sagte er sich, und ganz allein darauf kam es an, denn der Inhalt seiner Seminare war stets der gleiche: ein paar aufgeblasene Allgemeinplätze, verbunden mit etwas Elementarrhetorik und Ratschlägen zu Körperhaltungund Gestik. Genau genommen handelte er in ganztägigen Schulungen Dinge ab, für die seine Großmutter zu Hause am Küchentisch drei Sätze gebraucht hatte: Ein freundliches Gesicht erreicht mehr. Zeig niemandem deine Schwachstelle. Wer zahlt, hat recht . Doch seit er vor etwas mehr als vier Jahren seinen gut bezahlten Job im Vertrieb eines großen Pharmaunternehmens aufgegeben und sich als selbstständiger Unternehmensberater auf eigene Füße gestellt hatte, war er fast ständig ausgebucht, und er war immer wieder aufs Neue erstaunt, was Firmen für die Verkündung auch noch der elementarsten Wahrheiten zu zahlen bereit waren. So gesehen rechtfertigten sich seine Seminare auf verblüffende Weise selbst, denn sie bewiesen, dass man den größten Müll an den Mann bringen konnte, wenn man ihn nur mundgerecht verpackte. Er lächelte zufrieden. Und wenn es ihm gelang, seinen Möchtegernmanagern wenigstens einen Bruchteil dieser Fähigkeit zu vermitteln, war er weiß Gott jedes Honorar wert, das man ihm bezahlte!
Die »Verkaufsstrategien im Versandhandel« fanden nächsten Montag statt. Heute war er lediglich zu einer Vorbesprechung mit der Geschäftsleitung gekommen, eine Aufgabe, die er normalerweise telefonisch erledigte, doch die
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