Der Beutegaenger
sie etwa Mitte vierzig war.
»Wir ermitteln in dem Mordfall an der Alten Stiege, von dem Sie wahrscheinlich schon gehört haben«, begann er, als sie saßen.
Marianne Siemssen warf einen flüchtigen Blick auf ihre sorgfältig lackierten, aber kurz geschnittenen Fingernägel. »Ja, ich habe darüber gelesen.«
Verhoeven sah sie an. Eigentlich müsste sie sich jetzt erkundigen, was das mit ihr zu tun hat, dachte er, warum wir hier sind, was wir von ihr wollen. Doch Marianne Siemssen stellte keine Fragen. »Das Opfer, Tamara Borg, war Mitglied in Ihrem Fitness-Studio«, erklärte er schließlich ungefragt. »Ist Ihnen diese Tatsache bekannt?«
Marianne Siemssen zögerte einen Augenblick. »Ja.«
Verhoeven betrachtete den Schreibtisch, der sie trennte. Keine Fotos, keine Accessoires, keine Blumen. Wegwerfkugelschreiber. Dieser Frau schien ihre Umgebung vollkommen gleichgültig zu sein. Verhoeven fragte sich im Stillen, wie viele Stunden sie tagtäglich in diesem Büro verbrachte. Und wie es bei ihr daheim aussehen mochte. »Haben Sie Frau Borg persönlich gekannt?«
»Ich nehme es an«, antwortete Marianne Siemssen. »Allerdings kann ich diesem Namen kein Gesicht zuordnen.« Sie zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Wir haben zurzeit etwa zweihundertachtzig feste Mitglieder. Dazu kommen die vielen Frauen, die hier mit Gastkarten trainieren. Ich verbringe die meiste Zeit des Tages hier im Büro und habe darüber hinaus überhaupt kein Gedächtnis für Gesichter.« Sie machte eine kurze Pause. »Gut möglich, dass ich ihr gelegentlich begegnet bin«, fügte sie dann mit einem sehr charmanten Lächeln hinzu.
»Aber Sie können sich nicht bewusst an Frau Borg erinnern?«
»Nein«, entgegnete sie, und Verhoeven dachte eine Weile über die Frage nach, ob diese Aussage der Wahrheit entsprach. Während er überlegte, bemerkte er, dass Winnie Heller neben ihm ungeduldig wurde. Aber Marianne Siemssen war keine Frau, die man leicht unter Druck setzte. Sie wirkte wie jemand, der sich lange in der Kunst des Abstandhaltens geübt hatte. Vielleicht auch in der Kunst der Verstellung. Falls sie ein Geheimnis hatte, würde sie es sich nicht mit Gewalt entreißen lassen. Oder? Verhoeven dachte an die Befragung Gernot Leistners. An sein Gefühl, zu passiv geblieben zu sein. Nicht die richtigen Fragen gestellt zu haben. Aber das hier war etwas anderes. Wenn wir zu laut sind, dachte er, überhören wir die Zwischentöne.
»Haben Sie vielleicht irgendwann einmal mitbekommen, dass sich . . .« Er zögerte. »... dass sich ein Mann nach einem Mitglied Ihres Studios erkundigt oder auf eine der Frauen gewartet hat?«
Die Inhaberin des Fitness-Studios lächelte noch immer:
»Männer haben hier keinen Zutritt«, entgegnete sie lakonisch. »Danach habe ich nicht gefragt«, sagte Verhoeven.
»Ich habe nichts bemerkt.«
Er sah Marianne Siemssen an. Was sie sagte, wirkte durchaus glaubhaft. Nichtsdestotrotz hatte er das Gefühl, dass sie spielte. Ein Spiel. Eine Rolle. »Ich muss Sie bitten, uns eine Liste aller Mitglieder Ihres Studios zu geben.«
Die blauen Augen, die bislang leicht verschleiert gewirkt hatten, nahmen plötzlich einen wachsamen Ausdruck an. Oder war es Angst? »Wenn Sie glauben, dass Ihnen eine solche Liste weiterhilft . . .«, sagte die Inhaberin des Fitness-Studios mit einer Gleichgültigkeit, die nicht recht zu dem Ausdruck ihrer Augen passen wollte. »Wollen Sie, dass ich Ihnen die Liste sofort ausdrucke?«
Verhoeven nickte. »Wenn Sie so freundlich wären.«
Marianne Siemssen rollte auf ihrem Bürostuhl zum Computer hinüber und zog den Auszug für die Tastatur unter der Schreibtischplatte hervor. Der Bildschirmschoner, eine Allee in Schwarzweiß, verschwand. »Es dauert einen Augenblick«, sagte sie, ohne sich umzublicken. »Ich muss zuerst eine andere Anwendung beenden.«
»Kein Problem«, versicherte Verhoeven und sah sich erneut in dem Büro um. Eine seltsame Frau, dachte er. Sie hatte ein schönes, eigenwilliges Gesicht und verfügte ganz offensichtlich über eine außergewöhnlich starke Persönlichkeit. Umso seltsamer, dass diese Persönlichkeit nicht auf ihre Umgebung abzufärben schien. Er hatte selten ein Zimmer gesehen, das so wenig über den Menschen verriet, der es nutzte, wie dieses Büro.
War das Absicht? Oder ein unbewusster Ausdruck der Mauern, die Marianne Siemssen in sich trug? Seine Augen folgten ihren Fingern, die wie schwerelos über die Tastatur glitten. Es musste ziemlich anstrengend
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