Der Beutegaenger
sein, zu verhindern, dass man seiner Umgebung einen persönlichen Stempel aufdrückte. Abermals fragte er sich, wie es bei Marianne Siemssen zu Hause aussehen mochte. Was sie tat, wenn sie allein war. Und warum sie überhaupt keine Fragen stellte.
Im selben Moment begann in einer anderen Ecke des Zimmers ein Drucker zu rattern.
Marianne Siemssen schob den Tastaturauszug unter den Schreibtisch zurück und wandte sich wieder den beiden Kommissaren zu. »In ein paar Minuten haben Sie, was Sie brauchen.«
»Was haben Sie gedacht, als Sie von dem Mord an der Alten Stiege erfahren haben?«, fragte Winnie Heller in die Stille, die nur vom gleichmäßigen Schnarren des Druckers durchbrochen wurde.
Marianne Siemssen lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Wie bitte?«
»Ich hätte gern gewusst, was Ihr erster Gedanke gewesen ist.« Sie fixierte die Frau auf der anderen Seite des Schreibtischs. »Immerhin wird in einer Stadt wie dieserja nicht jeden Tag eine Frau auf so bestialische Weise ermordet.«
Marianne Siemssen verzog keine Miene, nur der Schleier über ihren Augen war jetzt vollständig verschwunden. »Ich habe mich gefragt, wie lange Tamara Borg Angst haben musste«, entgegnete sie. Dann stand sie auf, nahm ein paar Papierbögen aus dem Drucker und heftete diese zusammen. »Hier ist Ihre Liste.«
Verhoeven überflog die Namen. Winnie Heller beobachtete ihn und registrierte einen flüchtigen Schatten von Enttäuschung auf seinem Gesicht, als er die Liste zusammenfalteteund in die Tasche seines Mantels steckte. Dann erhob er sich. »Sagt Ihnen der Name Susanne Leistner etwas?«
Falls Marianne Siemssen mit diesem Namen etwas anzufangen wusste, gelang es ihr zumindest ausgezeichnet, diese Tatsache zu verbergen. Ihre Antwort kam prompt und ungerührt: »Wie ich Ihnen bereits sagte, habe ich überhaupt kein Gedächtnis für Namen. Wenn dieser Name auf der Liste steht, mag es sein, dass ich die Frau vom Sehen kenne. Mehr sicher nicht.«
Verhoeven nickte und ging zur Tür.
Winnie Heller folgte ihm mit ausgesprochenem Widerwillen. Das konnte doch wohl nicht sein Ernst sein! Ein paar warme Worte, gepaart mit ein paar routinierten Fragen – und sonst nichts? Was war mit dem Druck, den man hin und wieder ausüben musste, um zu brauchbaren Ergebnissen zu kommen? Immerhin war das hier die Gelegenheit. Die erste vielversprechende Spur überhaupt, und sie, Winnie Heller, hatte diese Spur aufgetan und Verhoeven den Knochen bereitwillig zu Füßen gelegt. Sie hatte ihm in allen Einzelheiten von ihrem Gespräch mit Hedi Apsner berichtet, und seit sie hier waren, hatte sie ihre persönliche Neugier kompromisslos dem Bemühen um eine gute Beurteilung ihrer Teamfähigkeit und um einen Hauch mehr Wir-Gefühl untergeordnet. Und was machte Verhoeven aus alldem? Sie sah seinen geraden, aber trotzdem irgendwie müde wirkenden Rücken an und schüttelte unwillig den Kopf. Seit er aus der Gerichtsmedizin zurück war, strahlte ihr Vorgesetzter wieder die alte Passivität aus. Die Ich-kann-nichts-will-nichts-wissen-und-ums-Verrecken-keine-Fehler-machen-Ausstrahlung. Oder verfolgte er mit seiner Zurückhaltung am Ende doch einen ganz bestimmten Zweck? Tj a, mein Lieber, dachte sie, wenn dem so ist, hättest du dich vorher mit mir abstimmen sollen! Sie blieb mitten im Türrahmen stehen und drehte sich noch einmalzu Marianne Siemssen um. »Was haben Sie eigentlich gegen Chrysanthemen?«, fragte sie und glaubte zu sehen, wie das Gesicht auf der anderen Seite des Schreibtischs eine Nuance blasser wurde.
»Ich fürchte, ich verstehe Ihre Frage nicht.«
»Tatsächlich nicht?«, fragte sie bewusst provozierend. »Das finde ich sehr merkwürdig, wo Sie doch erst kürzlich einen Strauß Chrysanthemen in den Müll geworfen haben, nachdem Sie sich fürchterlich über dessen Existenz aufgeregt hatten.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, entgegnete Marianne Siemssen, die sich schnell gefasst hatte. Sie strahlte jetzt eine ungeheure Stärke aus.
Winnie Heller lächelte sie an. »Wie Sie meinen«, sagte sie und verließ das Büro.
Im Präsidium warteten Neuigkeiten auf sie. Der Pflasterstein, mit dem Isolde Reisinger erschlagen worden war, stammte aus dem Vorgarten eines Hauses, das sich auf halbem Weg zwischen der Kirche unterhalb der Alten Stiege und der Wohnung des Opfers befand. Der Besitzer hatte im Sommer seine Einfahrt neu gepflastert. Die überzähligen Steine lagen noch immer auf einer Palette neben der
Weitere Kostenlose Bücher