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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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nicht so naiv, sich einzureden, dass sie damit durchkommt, wenn sie uns wissentlich täuscht«, widersprach Verhoeven. »Außerdem ist Susanne Leistner mehrmals in der Woche zum Joggen gegangen, wie wir wissen. Tut man das, wenn man in einem eleganten Fitness-Studio teure Mitgliedsbeiträge zahlt?«
    »Ich finde, wir sollten trotzdem noch einmal mit Susanne Leistners Mann sprechen«, insistierte Winnie Heller. »Vielleichthatten seine Frau und Marianne Siemssen auf irgendeine andere Weise Kontakt.« Sie nippte an ihrem Kaffee. »Ist Ihnen übrigens die Zeitung aufgefallen, die auf dem Aktenschrank lag? Der Immobilienteil war aufgeschlagen. Und einige der Anzeigen waren mit Rotstift markiert.«
    Verhoeven sah sie an. »Sie meinen, die Siemssen sucht eine neue Wohnung?«
    »Wenn ja, wäre das nicht ganz uninteressant«, erwiderte Winnie Heller mit einem schlitzohrigen Lächeln. »Es war nämlich der Immobilienteil der Süddeutschen .«
     
     
     
    Marianne Siemssen starrte auf die Tür, die sich hinter den beiden Kommissaren geschlossen hatte. Wann war das gewesen? Vor zehn Minuten? Vor einer Stunde? Sie wusste es nicht. Sie wusste überhaupt nichts mehr. Sie saß einfach da und starrte die Tür an, die Aktenschränke, die unter ihren Augen verschwammen.
    Die Zeit hatte aufgehört zu existieren, und obwohl sie durchaus das Gefühl hatte, ihr Atem würde ruhig und gleichmäßig strömen, ging ihr Herzschlag noch immer so schnell, als habe sie erst vor wenigen Sekunden einen Vierhundertmeterlauf absolviert.
    Was haben Sie eigentlich gegen Chrysanthemen?
    Was für ein schlechter Scherz! Ich hasse sie, hätte sie am liebsten geantwortet. Ich hasse sie abgrundtief, weil sie bedeuten, dass er mich gefunden hat. Dass nun alles wieder von vorn beginnt. Dass die Ruhe, an die ich beinahe geglaubt hatte, tatsächlich nichts anderes als eine törichte Illusion gewesen ist. Sie merkte, dass ihr kalt war. Ihre Jacke hing am Haken neben der Tür. Aufzustehen und die Jacke zu holenschien ihr undenkbar. Begann es nun wirklich einfach wieder von vorn? Oder war es viel schlimmer? Konnte es noch schlimmer werden als damals?
    Drei Frauen waren gestorben. Ihretwegen?
    Was hatte er vor?
    Sie zog die Ärmel ihres Pullovers über die Handgelenke. Im Saal unter ihr rangen fremde Frauen nach Luft. Stepp-Aerobic für Fortgeschrittene. Neunzig Minuten. Hätte sie etwas sagen sollen? Von ihm? Von den Gedichten? Sie würden ihr doch sowieso nicht geglaubt haben. Sie hätten sie nur ausgelacht.
    Nur eine Phase .
    Sie gar nicht ernst genommen.
    Er ist doch noch ein Kind.
    Er hatte es schon immer ganz ausgezeichnet verstanden, die Menschen in seiner Umgebung zu täuschen. Und er würde keinen Fehler gemacht haben. Keinen einzigen. Da war sie sich ganz sicher. Er hatte für alle infrage kommenden Zeitpunkte das wasserdichteste Alibi der Welt. Er machte keine Fehler, nicht er . Er war ja so gottverdammt intelligent, dass er immer an alles dachte, alle Eventualitäten einkalkulierte, alles doppelt und dreifach absicherte. Nur sie war blöd genug, zweimal hintereinander denselben Weg zur Schule zu nehmen, ein T-Shirt zu probieren in einer winzigen Kabine, die sich als unentrinnbare Falle entpuppte, ihre Post selbst zu lesen, ihre Katze aus dem Haus zu lassen, ein Päckchen voller Sexspielzeug anzunehmen, zu glauben, dass sie wie jeder andere Mensch das Recht auf ein Bad im türkisblauen Wasser hatte. Nur sie war blöd genug! Sie fühlte einen entfernten Schmerz, der davon kam, dass ihre Fingernägel sich in ihre Handballen bohrten. Nur mit Mühe gelang es ihr, den Krampf zu lösen. Es blutete, obwohl sie die Nägel so kurz hielt, wie es nur irgend möglich war, damit so etwas nicht geschehenkonnte, nachts oder in einem Moment der Unaufmerksamkeit, so wie jetzt. Mechanisch tastete sie nach einem Taschentuch und wischte sich das Blut von ihrer Handfläche. Oh ja, er hatte es schon immer ganz ausgezeichnet verstanden, die Menschen in seiner Umgebung zu täuschen. Und ihr hatte man noch nie geglaubt ...
    Es hieß, es sei unmöglich, seinem Schicksal zu entgehen.
    Marianne Siemssen schloss die Augen. Vielleicht war das die Wahrheit. Aber sie war entschlossen, dem ihren so schnell und so weit wie möglich davonzulaufen.
    Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer ihrer Anwältin. »Schön, dass ich Sie gleich dran habe«, hörte sie sich sagen, nachdem diese abgenommen hatte. Ihre Stimme klang erstaunlich normal. Grotesk gefasst. »Ich habe mich entschieden:

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