Der Beutegaenger
deckten sich mit Terminen, an denen Jannsen beruflich unterwegs gewesen war. Am Tag, als Anna-Lena Kluger starb, hatte er das Unternehmen am frühen Nachmittag verlassen. Es war derselbe Tag gewesen, an dem er seinem alten Schulfreund im Rahmen einer innerbetrieblichen Fortbildung begegnet wäre. Doch diese Fortbildung hatte nicht stattgefunden, weil Uwe Dierck am Tag zuvor ermordet worden war. Man hatte ihn tot in seinem Wagen aufgefunden, auf einem Parkplatz nahe Steinhagen. Die Leiche hatte erhebliche Kopfverletzungen aufgewiesen. Diercks Brieftasche hatte gefehlt. Die Kollegen in Bielefeld waren von einem Raubmord ausgegangen.
»Marianne Siemssen hatte recht«, bemerkte Winnie Heller in die Stille jenseits des Motorenlärms.
Rechts kündigte ein Schild das Autobahnkreuz Köln-Ostan. Verhoeven registrierte es nur am Rande. Er fühlte sich getrieben. Wochenlang hatten sie ein Phantom gejagt. Einen Mörder ohne Gesicht, ohne Namen und ohne ersichtliches Motiv. Und jetzt hatte dieses Phantom plötzlich eine Identität bekommen.
»Raphael Martin ist nicht tot.«
Er nickte nur, während sein Gehirn fieberhaft bemüht war, Ordnung in die Fülle von Informationen zu bringen, die in den letzten anderthalb Stunden über sie hereingebrochen waren. Raphael Martin geht mit seinem Vater nach Hamburg. Dort macht er sein Abitur, leistet seinen Wehrdienst ab und beginnt ein Studium an der Hamburger Uni, wo er einen gleichaltrigen Psychologiestudenten kennenlernt: Richard Jannsen. Sie freunden sich an. Gehen zusammen ins Kino und ins Theater. Führen Gespräche. In einem dieser Gespräche erwähnt Jannsen, dass er keine Verwandten mehr hat. Das ist sein Todesurteil. Raphael überredet den Freund, ihn in den Semesterferien auf eine Reise nach Nordafrika zu begleiten, und Jannsen stimmt zu. Sie landen am 28. Juni 1988 in Agadir. Genau vierundzwanzig Tage später brechen sie zu einer Bergtour in den Hohen Atlas auf. Verhoeven nickte leise vor sich hin. So konnte, so musste es gewesen sein. Was während dieser Tour tatsächlich geschehen war, konnten sie nur vermuten. Raphael wartet auf eine günstige Gelegenheit. Er tauscht die Papiere und die Reisedokumente aus. Vielleicht hat er schon lange vorher damit begonnen, sein Aussehen dem seines Kommilitonen so weit wie möglich anzunähern. Dann stößt er den Jungen in einen Abgrund. Er sorgt dafür, dass nicht zu schnell Hilfe vor Ort ist. Damit stellt er sicher, dass Jannsen auch wirklich tot ist, wenn man ihn birgt. Die Behörden schöpfen keinerlei Verdacht. Warum auch? Raphael Martin hatte ja kein Motiv, seinen Freund zu töten. Die Sache wird als Unfall zu den Akten gelegt, Raphael kehrtunter dem Namen seines Freundes nach Deutschland zurück. Als Richard Jannsen exmatrikuliert er sich in Hamburg und geht nach Münster, wo er sich für ein Betriebswirtschaftsstudium einschreibt. Drei Jahre später, 1991, schließt er sein Studium mit Bestnoten ab. Er arbeitet bei verschiedenen kleineren Unternehmen und geht schließlich als Vertriebsleiter nach Dortmund, wo er auch heiratet. 2001 wird seine Tochter geboren.
»Glauben Sie, er hat diese Sache mit der neuen Identität nur durchgezogen, um sich eines Tages gefahrlos wieder an Marianne Siemssen ranmachen zu können?«, fragte Winnie Heller von der Seite.
Verhoeven dachte einen Moment lang nach. »Möglich«, sagte er. »Aber vielleicht gab es auch noch einen anderen Grund: Vielleicht fürchtete er, eines schönen Tages von der Vergangenheit eingeholt und mit einem ungeklärten Todesfall in Verbindung gebracht zu werden.«
»Sie denken an Tante Louise?«
Verhoeven nickte.
»Aber diese Sache war doch längst abgeschlossen«, wandte Winnie Heller ein. Sie hatte sich kundig gemacht. »Als Unfall zu den Akten gelegt.«
»Das muss nicht viel besagen«, versetzte Verhoeven achselzuckend. »Psychopathen wie er leiden nicht selten an paranoiden Wahnvorstellungen.«
»Und Richard Jannsens Frau hat keine Ahnung, dass sie mit einer Bestie verheiratet ist.« Winnie Heller seufzte. »Warum in aller Welt fehlt den meisten Frauenjeglicher Instinkt, wenn es um Männer geht?«
Das Piepsen des Funkgeräts entband Verhoeven von einer Antwort auf diese heikle Frage. Winnie Heller beantwortete den Funkspruch, und Bredeneys Stimme drang knirschend und rauschend aus dem Lautsprecher: »Die Vorstandssitzungläuft bereits seit vierzig Minuten, aber bis jetzt ist Richard Jannsen nicht aufgetaucht.«
»Verdammt noch mal«, fluchte Verhoeven. »Wir
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