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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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die Mimik seiner Mitmenschen analysiert, Gesten und Blicke gepaukt, wie andere Menschen Vokabeln oder PIN-Codes paukten. Emotionale Imitation. Er betrachtete seinen Mund, der genau das richtige Maß an Freundlichkeit ausstrahlte. Er war schon immer gut gewesen in allem, was er getan, wozu er Lust gehabt hatte. Fehler unterliefen ihm nur, wenn ihn etwas langweilte. Zum zehnten Mal dieselbe Rechenaufgabe, zum hundertsten Mal die einzige Partizipialkonstruktion in den mageren drei Sätzen Tacitus’ bestimmen, aus denen die Lateinklausur bestand. Ja, dachte er, meine Fehler beruhen auf Desinteresse. Nicht auf Unvermögen.
    Worüber bist du so wütend?
    Er zuckte zusammen.
    Ich bin nicht wütend.
    Seine Augen wanderten an seinem Hemd hinunter. Knopfleiste vorbildlich. Manschetten verstärkt. Seine Frau hatte das Hemd ordentlich gebügelt, ganz so wie immer. In drei Schritten, mit Ärmelbrett. Sie hatte sein Hemd mit der gewohnten Akribie gebügelt, obwohl sie ihn so komisch anstarrte in der letzten Zeit. Das machte ihm Sorgen. Das und das andere.
    Warum sollte ich wütend sein?
    Sie reagierten nicht mehr planmäßig. Sie wurden misstrauischer. Selbst die Perücke konnte das nicht verhindern. Dabei war sie sehr hilfreich gewesen. Lange blonde Haare. Eine Frau. Eine harmlose Frau mit langen blonden Haaren, fast wie ein Engel. Vor Engeln und Frauen braucht man keine Angst zu haben. Die ersten beiden hatten sich so leicht täuschen lassen. Er versuchte, sich ihre Gesichter in Erinnerung zu rufen, den Ausdruck des plötzlichen, hysterischen Entsetzens, den er so schätzte, aber es wollte ihm nicht gelingen. Als ob jemand alles gelöscht hat, dachte er, und der Gedanke ärgerte ihn.
    Die Tür mit der Aufschrift PARKDECKS 1+2 schnappte hinter ihm ins Schloss, und er stieg langsam die beiden Treppen zur Eingangshalle hinauf.
    Sie hatte einen anderen Weggenommen. Sonst hätte er sie niemals übersehen können. Wenn er sie nicht zufällig an der Haltestelle entdeckt hätte ... Ein paar Augenblicke, und es wäre zu spät gewesen. Dann hätte der Bus sie in Sicherheit gebracht. Und selbst so war es überaus riskant gewesen. Wenn der Bus pünktlich gewesen wäre, wenn ein anderes Auto vorbeigekommen wäre . . .
    Es war kein anderes Auto vorbeigekommen. Und der Bus war nicht pünktlich gewesen. Das Glück war ihm treu geblieben.
    Aber warum hatte Anna-Lena Kluger einen anderen Weg genommen?
    Der Pförtner hob grüßend die Hand, als er vorbeikam. Er kannte den Mann nicht, hatte im Gegenteil das Gefühl, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben. Das irritierte ihn. Zögernd ging er weiter, Richtung Aufzug. Doch der Fahrstuhl war gerade auf dem Weg nach oben. Ungeduldig drückte er ein paar Mal auf den Knopf neben der Tür.
    Was mochte Dierck seiner Frau alles erzählt haben, letzte Woche am Telefon? Sie sah ihn immer so komisch an. Prüfend. Und eine Spur zu lange. Dabei hatte sie Angst, ihn so lange anzusehen. Normalerweise.
    Was glotzt du so?
    Sie sah ihn zu lange an, und sie fragte auch andauernd nach Irland, wo er nie gewesen war. Während der ganzen Zeit seiner Ehe hatte er niemals über seine Vergangenheit gesprochen. Und jetzt hatte er plötzlich einen Schulfreund. Frauen interessierten sich für solche Dinge. Natürlich beschwerte sie sich nicht, dass er ihre Fragen nach Irland nicht beantwortete. Sie beschwerte sich nie. Sie glaubte, dass das Leben sie schonen würde, wenn sie sich still verhielt.
    Er konnte hören, wie der Aufzug in einer der oberen Etagen stoppte. Kurz darauf leuchtete der nach unten gerichtete Pfeil an der Tür auf.
    Wieso kannte er den Mann an der Pforte nicht? Wieso hatte Anna-Lena Kluger einen anderen Weg genommen? Und warum, verdammt noch mal, starrten ihn hier alle so komisch an?
    Mit einem leisen Summen glitt der Fahrstuhl abwärts. Doch als sich die Türen öffneten, war er längst wieder auf dem Weg zu seinem Wagen.

Verhoeven erfuhr es von Winnie Heller, als er mit zwei großen Brötchentüten und einer Packung Müsliriegel ins Büro zurückkehrte. Seine erste Reaktion war, anzunehmen, dass Werneuchen sich einen Scherz mit ihr erlaubt hatte. Doch im selben Augenblick, als ihm der Gedanke kam, wusste er bereits, dass Werneuchen nicht gescherzt hatte. Nicht in dieser Situation. Und nicht in dieser Sache. Richard Jannsen lebte tatsächlich in Dortmund.
    »Zufall möglicherweise«, murmelte er, während er die Nummer des Medienhauses wählte, die der Kollege unter Jannsens Privatnummer notiert hatte.

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