Der Beutegaenger
alle Türen schlossen luftdicht mit den Wänden ab.
Sie hatte keine Angst vor dem Keller. Trotzdem mied sie ihn. Dorthin verbannte sie jene Dinge, an die sie nicht erinnertwerden wollte. Unzählige Gläser mit Quittenmarmelade, die niemand aß. Sie lächelte. Es kam nicht von innen, aber sie fühlte, wie sich ihr Mund verzog. Sie hatte gelernt, Gefühle durch Indizien zu ersetzen. Einzig die Angst war ihr immer präsent gewesen, laut und besitzergreifend manchmal, aber viel öfter auch nur im Hintergrund, wie die geheimnisvolle Unbekannte, die auf einer Party am Kamin lehnte, gelassen im Wissen um die eigene Wirkung. Und absolut unnahbar. Die Unbekannte achtete darauf, dass niemand zu Besuch kam und dass die Türen stets gut verschlossen blieben. Sie schlug Alarm, sobald jemand Marianne Siemssen nach ihrer Telefonnummer oder ihrem Urlaubsziel fragte, und sie bestand darauf, in regelmäßigen Abständen den Wohnort zu wechseln. Inzwischen lebten sie schon eine lange Zeit zusammen und hatten sich arrangiert. Bis zu dem Tag, an dem plötzlich ein Strauß Chrysanthemen auf der Theke im Studio gestanden hatte.
Seither verhielt sich die Unbekannte überaus seltsam. Marianne Siemssen hatte damit gerechnet, dass sie triumphieren und toben und anschließend zur Flucht drängen würde, und sie hatte ja auch sofort alles Nötige in die Wege geleitet. Doch die Unbekannte war verschwunden. Wann genau, vermochte sie nicht zu sagen, nur, dass es vor dem Tag gewesen sein musste, an dem sie dem fremden Kriminalbeamten aufs Präsidium gefolgt war. Sonst hätte sie dieser Kommissarin doch niemals über Raphael erzählen können. Das hätte die Unbekannte nie zugelassen. Wo mochte sie hingegangen sein?
Sie sah wieder nach dem Waldrand. Irgendwie passte sie nicht in diese Zeit, die jede Intimsphäre abgeschafft hatte, in der keinerlei Mindestabstände galten, weder körperlich noch psychisch. Man sah ihr nicht an, wie wenig sie zurechtkam, im Gegenteil, man hielt sie allgemein für eine erfolgreiche und moderne Frau, aber trotzdem passte sie nicht in dieseZeit. Nicht einmal in diese Welt. Wer kochte heutzutage noch Quittenmarmelade? Es widerstrebte ihr, die Früchte verderben zu lassen. Stattdessen verdarb nun die Marmelade. Wo lag der Unterschied?
Wollte sie wirklich fort?
Seit die Unbekannte sie verlassen hatte, stellte sie sich unablässig diese Frage.
Sie seufzte und dachte wieder an ihren Traum. Den von neulich. Den mit dem Schatten. An den Weg, den sie hatte gehen müssen, obwohl sie ihn nicht gehen wollte. An ihren fruchtlosen Versuch, umzukehren, dem Haus zu entkommen, ihrem Schicksal. Weglaufen... Im wahren Leben funktionierte das. Oder? Wie lange noch?
Ich bin müde, dachte sie, und die Erkenntnis verwunderte sie zutiefst. Was Kraft und körperliche Fitness anging, hatte sie immer aus dem Vollen geschöpft. Nun spürte sie zum ersten Mal in ihrem Leben, wie alt sie war.
Ihre Hand tastete nach ihrem Haar, und sie straffte die Schultern. Raphael Martin war nicht tot, gleichgültig, was die Polizei behauptete. Er war kein harmloses Kind, kein pubertierender Schwärmer, und er war nicht tot. Er lebte und kannte ihr Haus, das Studio, ihre Gewohnheiten und sogar diesen Garten. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich. Raphael Martin war irgendwo dort draußen in der Welt, in die sie nicht gehörte, und kam näher und näher. Und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Marianne Siemssen das Bedürfnis, ihm die Tür zu öffnen.
Sie hatten umgehend die Kollegen in Dortmund informiert. Richard Jannsen würde unter ständiger Beobachtung stehen, sobald er das Firmengebäude betrat.
Jetzt rasten sie auf der A 3 nordwärts. Verhoeven saß am Steuer. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit benutzte er ausschließlich die linke Spur und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Um diese Tageszeit war nicht besonders viel Verkehr. Auf der Fahrbahn stand das Wasser, schmutzig graue Reste geschmolzenen Schnees. Winnie Heller saß neben ihm und starrte gedankenverloren in die vorbeifliegende Landschaft hinaus. Seit ihrem Aufbruch hatten sie noch kein einziges Wort gesprochen. Es war so weit. Sie fühlten es beide. Sie hatten den Mann gefunden, nach dem sie in den vergangenen Wochen so verzweifelt gesucht hatten.
Richard Jannsens Firmenwagen war ein dunkelgrüner VW Sharan, ein Van. Verhoeven war mit der Sekretärin seine Termine der letzten Wochen durchgegangen. Die Zeitpunkte der Morde an Susanne Leistner, Tamara Borg und Isolde Reisinger
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