Der Beutegaenger
am Leben ist«, sagte Winnie Heller.
»Oh doch«, entgegnete Verhoeven gedankenverloren. »Sie weiß es. Sie hat es immer gewusst.«
Seine Kollegin trat hinter ihn ans Fenster. »Hat er überhaupt vor, sie zu töten? Oder spielt er mit ihr wie eine Katze, die mit ihrer Beute spielt?«
Verhoevens Blick blieb an ein paar verstreuten Glasscherben auf der Terrasse hängen. »Vergessen Sie nicht, dass es das Endziel der Katze ist, die Beute zu töten.«
»Aber Raphael Martin ist nicht nur ein Mörder, sondern auch ein Stalker«, wandte Winnie Heller ein. »Und wenn das Objekt seiner Begierde tot ist, ist er endgültig allein zu Hause.«
Verhoeven drehte sich zu ihr um. In gewisser Weise hatte sie recht.
»Marianne Siemssen hat im Studio angerufen und gesagt, dass sie heute zu Hause bleibt, weil sie sich nicht wohlfühlt«,sagte sie, vielleicht, weil sein Blick sie verunsicherte. »Also ist sie bestimmt nicht in die Stadt gefahren, um einen Einkaufsbummel zu machen.«
»Nein«, sagte Verhoeven bestimmt. »Sie ist nicht zum Einkaufen gefahren. Sie hatte eine Verabredung.« Er trat vom Fenster weg und lief ziellos in der Küche hin und her. »Aus irgendeinem unerfindlichen Grund weiß Raphael Martin, dass wir ihn gefunden haben. Er hat sich mit ihr in Verbindung gesetzt.« Seine Finger schlossen sich fester um die Lehne eines nackten Küchenstuhls. Keine Kissen, keine Bequemlichkeit. »Aber warum hat sie uns nicht angerufen?«
Winnie Heller zuckte die Achseln. »Vielleicht ist sie einfach abgehauen. Wäre das nicht das Naheliegendste, wo sie der Polizei so wenig vertraut?«
Verhoevens Blick wanderte über die Spüle zur Anrichte und von da weiter zum Küchentisch. Ein Glas Quittenmarmelade stand dort. Daneben lag ein Buch.
Nachdenklich betrachtete er den Einband. »Verdammt«, rief er plötzlich und riss das Buch an sich. »Der See. Ich glaube, sie sind dort.«
»Woher wollen Sie das wissen?«, rief Winnie Heller und rannte ihm nach.
Verhoeven antwortete nicht, sondern hielt ihr im Laufen das Buch hin, das er vom Küchentisch mitgenommen hatte. Es war eine Ausgabe von Gerhart Hauptmanns Ratten.
Ein Damenschal aus mauvefarbener Seide.
Er konnte ihn in seiner Manteltasche fühlen, als er sich einen Weg durch die hohen, wild wuchernden Gräser und Sträucher bahnte, die das Ostufer des Sees vom Wald abgrenzten. Er hatte das Messer vergessen, das Katzenmesser, aber das spielte keine Rolle. Er hatte ohnehin nie vorgehabt, es zu benutzen. Nicht bei ihr.
Schon von Weitem hatte er sie dort am Ufer stehen sehen. Sie war also tatsächlich gekommen.
Jetzt stand sie auf einer schmalen Landzunge und blickte auf den See hinaus. Der eisige Westwind fegte über die Wasseroberfläche, zerrte an ihrem Mantel und fuhr in ihr langes blondes Haar, das weich und offen auf ihre Schultern herabfiel. Seit damals hatte er sie nie mit offenen Haaren gesehen. In den vergangenen Monaten hatte er ein paar Mal in dem kleinen Caf´e gegenüber des Studios gesessen und ihr nachgeblickt, wenn sie abends hastig aus der Tür trat und in ihr Auto stieg, und immer war ihr Haar hochgesteckt gewesen.
Sie sah sich nicht um. Sie wirkte nicht beunruhigt. Sie stand einfach da mit hochgeschlagenem Mantelkragen, die Hände in den Taschen vergraben, und blickte auf den See hinaus.
Einen kurzen Moment lang betrachtete er ihren Rücken.
Dann zog er den Schal aus der Tasche und trat aus den Büschen, direkt hinter sie.
»Hallo, Marianne«, flüsterte er.
Wie in Zeitlupe hob sie den Kopf und drehte sich um.
Starker, böiger Wind riss an den Wipfeln der Bäume, als sie am See ankamen. Sie stellten die Autos außer Sichtweite ab und gingen das letzte Stück zu Fuß.
Der See lag in einer Senke, deren Hänge dicht bewaldet waren. Von der Zufahrtsstraße aus schlugen sie einen schmalen Weg ein, der in einem weiten Bogen oberhalb des Sees am Waldrand entlangführte. Eigentlich war es nur ein Trampelpfad.
Verhoeven ging voran, Winnie Heller schräg hinter ihm. Die Anspannung war mit Händen zu greifen und grub feine, harte Linien in ihre Gesichter. Das Adrenalin in ihren Adern versetzte sie in eine fieberhafte Erregung. Funktionieren. Alles richtig machen. Alles bedenken. Keine weiteren Fehler.
Noch war der See nicht zu sehen, und auch die Kollegen, die vom Zufahrtsweg aus eine andere Richtung eingeschlagen hatten, waren inzwischen aus ihrem Blickfeld verschwunden. Unter ihren Sohlen war der Boden schwer vor Nässe. Der Winter war vorbei, zumindest
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