Der Beutegaenger
Jannsens Frau hatte ihm die Nummer gegeben. Ihr Mann sei schon zur Arbeit gefahren.
Nach kurzem Läuten meldete sich eine Sekretärin.
»Verhoeven, Kripo Wiesbaden«, meldete er sich und schaltete den Lautsprecher ein, damit die Kollegen mithören konnten. »Ich hätte gern mit Herrn Jannsen gesprochen. Richard Jannsen. «
»Augenblick, ich versuche es in seinem Büro«, sagte die Angestellte. Kurze Zeit später meldete sie sich erneut: »Hören Sie? Herr Jannsen ist noch nicht da. Er muss aber jeden Moment kommen. In einer halben Stunde beginnt eine Vorstandssitzung, an der er teilnehmen wird.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Soll ich etwas ausrichten? Ich meine, es geht doch sicher um den Mord, oder?«
Einen Moment lang war Verhoeven völlig perplex. Eine solche Frage war so ziemlich das Letzte, was er erwartet hatte. »Was wissen Sie über die Sache?«, erkundigte er sich, bemüht, sich seine Verblüffung nicht anmerken zu lassen.
»Im Grunde gar nichts«, gab die Sekretärin zu. »Nur, dass Herr Jannsen und das Opfer sich von früher kannten. Sie sind zusammen zur Schule gegangen.«
Verhoeven sah sich in den Gesichtern seiner Kollegen um und stellte erleichtert fest, dass auch Werneuchen und WinnieHeller ganz offensichtlich keine Ahnung hatten, wovon die Frau sprach.
»Als Herr Dierck letzte Woche hier war, ist er richtig enttäuscht gewesen, weil Herr Jannsen geschäftlich unterwegs war«, fuhr sie fort, als er nichts sagte. »Ich habe ihm ja noch die Telefonnummer gegeben. Herrn Jannsens Privatnummer, meine ich. Sie wollten sich wohl diese Woche treffen. Ich glaube, sie hatten einander zwanzig Jahre nicht gesehen.«
Verhoeven versuchte seine Gedanken zu ordnen. »Ein Schulfreund von Herrn Jannsen ist ermordet worden?«
»Na, ich dachte, deswegen rufen Sie an«, versetzte die Sekretärin vorwurfsvoll. »Oder etwa nicht?«
»Nicht direkt«, gab Verhoeven zu. Seine Gedanken schlugen Purzelbäume. Am Abend ihres Todes war Anna-Lena Kluger in ein Auto mit Dortmunder Kennzeichen gestiegen. Der einzige Zeuge für Raphael Martins Tod lebte in Dortmund. Richard Jannsen hatte zwei Tage gebraucht, um Hilfe zu holen, damals in Marokko. Achtzehn Jahre später wollte sich ein Jugendfreund mit ihm verabreden und starb. Verhoeven fuhr sich mit der freien Hand durch die Haare. Von irgendwoher hörte er wieder Bredeneys Stimme. Scheint ja alles andere als bekömmlich zu sein, diesen Raphael zu kennen . . . Entschlossen hob er den Kopf. »Sie wissen nicht zufällig, was für einen Wagen Herr Jannsen fährt?«
Marianne Siemssen stand am Fenster ihres Bungalows und blickte über die Terrasse und die inzwischen wieder schmutzig grüne Rasenfläche hinter dem Haus zum nahen Waldrand hinüber. Das trübe Tageslicht war noch immer so schwach, als sei gerade erst die Morgendämmerung angebrochen.
Sie mochte diesen Blick. Selbst jetzt, in der trostlosesten Zeit des Jahres, strahlte der Garten Ruhe und Erhabenheit aus. Ein Hort, von keinem der Nachbargrundstücke aus einzusehen. Darauf hatte sie geachtet. Keine Nachbarn und keine Treppen.
Nun ließ sie also einmal mehr alles hinter sich. Eine andere Stadt, ein anderes Haus, ein anderer Garten. Eine neue Flucht. Ein neuer Anfang. Der neue Anfang einer neuen Flucht. Wie auch immer. Es würde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, den Haushalt aufzulösen, ganz so wie damals bei ihnen, bei den Martins. Die Martins wollten nicht erinnert werden. Sie wollte nichts zu verlieren haben. Das Ergebnis war dasselbe. Sich nicht einrichten. Immer auf gepackten Koffern. Nichts ist für die Ewigkeit.
Aber diesen Blick hinaus in den Garten würde sie vermissen, das wusste sie, und sie fragte sich, warum sie nicht hatte verhindern können, dass sie sich an diesen Blick gewöhnte. So etwas war ihr nie zuvor passiert, in keiner der Städte vorher, in keinem der anderen Häuser.
Die kahlen Obstbäume auf der Wiese zeichneten sich nur undeutlich gegen das flächige Dunkel des Waldes ab. Quitten, aus denen sie in jedem Herbst Marmelade und Gelee kochte, weil die Früchte nun einmal da waren, und sie fragte sich plötzlich, wie viele Gläser mit Quittenmarmelade wohl in den Holzregalen in ihrem Keller lagern mochten. In den Keller ging sie selten, obwohl stabile Eisengitter die schmalen Fenster schützten, nicht Plastikriegel. Der Vorbesitzer des Hauses hatte wahrscheinlich Geld gehabt, vielleicht auch ein Schwimmbaderlebnis. Jedenfalls waren Eisengitter vor den Kellerfenstern, und
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