Der Beutegaenger
Kopf. Dann wandte er sich wieder seinen Mitarbeitern zu, die überall im Unterholz herumliefen, Fotos machten, potenzielle Spuren mit Nummern markierten und Abstände vermaßen.
Verhoeven stieg unter dem Plastikband hindurch. Vor ihnen lag eine Mulde, die rund einen Meter tief war. Vermutlich hatte hier einmal ein großer Baum gestanden, der gefällt und dessen Wurzel später ausgegraben worden war. Auf dem Grund der Mulde stand Regenwasser. Die Tote lag auf dem Rücken. Langes blondes Haar klebte ihr in schmutzigen Strähnen am Kopf. Dr. Isabelle Gutzkow, die zuständige Pathologin, hockte neben der Leiche im nassen Laub, die massige Gestalt dicht über den Oberkörper der Toten gebeugt. Verhoeven konnte sich keine Frau vorstellen, zu der der NameIsabelle weniger gepasst hätte als zu Dr. Gutzkow, was vielleicht einer der Gründe dafür war, dass sie sich seines Wissens nach von niemandem duzen ließ. Sie war gebürtige Berlinerin, knapp unter fünfzig und trug das dichte, grau melierte Haar raspelkurz geschnitten. Aufgrund ihrer kräftigen Statur und ihres männlichen Auftretens hatten böse Zungen ihr den Spitznamen Potemkin gegeben. Nach dem Panzerkreuzer, nicht nach dem Staatsmann. Jetzt richtete sie sich auf und drehte sich um.
Verhoeven zuckte unwillkürlich zurück. Zugleich konnte er hören, wie Winnie Heller in seinem Rücken die Luft anhielt.
»Kein schöner Anblick, was?« Dr. Gutzkow strich ihr rustikales Tweedjackett zurecht und begrüßte Verhoeven mit einem flüchtigen Kopfnicken. »Sie ist seit mindestens fünfzehn, aber noch nicht länger als zwanzig Stunden tot. Genauer kann ich das im Augenblick beim besten Willen nicht sagen.« Sie sah Verhoeven an, als erwarte sie Widerspruch. Als er nichts einwandte, fuhr sie im Tonfall eines Fremdenführers, der neugierigen Touristen die Architektur eines barocken Prachtbaus erläutert, fort: »Wie Sie sehen, hat der Täter wie wild auf sie eingestochen. Mit einem sehr scharfen Gegenstand.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ein Messer wahrscheinlich. Möglicherweise auch ein Skalpell. Zu diesem Zeitpunkt war sie allerdings schon tot.«
Verhoeven überwand sich, die Frau zu seinen Füßen genauer anzusehen. Sie war noch jung. Dreißig vielleicht, kaum älter. Ihr blassblaues T-Shirt war von zahllosen Stichen zerfetzt, der Bauchraum ein einziges Schlachtfeld. Ansonsten war sie vollständig bekleidet. Seine Augen wanderten am Hals der Toten hinauf zu den etwa fingerbreit geöffneten Lippen, die auffallend blass waren. In den Mundwinkeln entdeckte Verhoeven Spuren von getrocknetem Blut. Die Augenwaren geschlossen. Trotzdem sah die Frau nicht friedlich aus. Ihr Gesicht war aufgedunsen und wirkte angestrengt. Auf den Lidern lag ein violetter Glanz.
Verhoeven trat einen Schritt zurück und wandte sich wieder Dr. Gutzkow zu. »Erdrosselt?«
Die Pathologin nickte. »Sieht ganz so aus.«
»Und was sind das für Schnitte?« Er zeigte auf die nackten Unterarme der Toten, die von zahlreichen Wunden übersät waren.
»Alle postmortal, falls es das ist, was Sie wissen wollten.« Dr. Gutzkow klopfte sich ein paar nasse Blätter von den Hosenbeinen und zupfte sich dann in aller Seelenruhe die Latexhandschuhe von den Händen, die auffallend klein waren und im Gegensatz zu ihrer sonstigen Erscheinung überaus sensibel anmuteten. »Von der Strangmarke abgesehen, habe ich bislang keinerlei vitale Verletzungen gefunden.«
Verhoevens Augen saugten sich an einem besonders tiefen Schnitt am rechten Handgelenk der Toten fest. Keine vitalen Verletzungen. Sagte diese Tatsache etwas über das Selbstbewusstsein des Täters aus? Hatten sie es mit einem Verklemmten zu tun, der seine Opfer erst anrührte, wenn sie bereits tot waren? Laut sagte er: »Die Frau hat sich nicht gewehrt?«
Die Pathologin schüttelte den Kopf. »Der Angriff muss völlig überraschend gekommen sein.« Ihr kühler, wissenschaftlich distanzierter Blick ruhte einige Sekunden prüfend auf Verhoevens Gesicht. Dann nahm sie ein tupferähnliches Instrument aus ihrem Einsatzkoffer und ging noch einmal neben der Leiche in die Knie. Verhoeven hörte das Knacken ihrer Gelenke. »Weitaus interessanter als die fehlenden Abwehrverletzungen finde ich allerdings das hier.« Sie schob das zerschnittene T-Shirt beiseite, sodass ein Teil der Bauchhöhle sichtbar wurde. »Was sagen Sie dazu?«
Verhoeven ging neben ihr in die Hocke. »Eine Blume«, befand er ungläubig.
Dr. Gutzkow nickte. »Genauer gesagt: eine Chrysantheme.«
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