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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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Ausschlussgründen«, und sie hatte es sich nun einmal ums Verrecken nicht leisten können, ihren Traum von der Polizeikarriere zu begraben. Dieser Traum war es, der sie am Leben hielt. Damals wie heute. Die einzige Konstante in ihrem beschissenen Dasein.
    In ihrem Rücken war der Flur erfüllt von den Geräuschen des Polizeialltags. Stimmengewirr. Eilige Schritte. Das Klingeln von Telefonen und Handys. Irgendwo am Ende des Gangs summte ein Fax. Sie zwang sich, einen Blick auf den Zettel zu werfen, den Werneuchen ihr ausgehändigt hatte, und erstarrte, als sie den Namen las, den ihr neuer Kollege neben dem Kästchen Bittet um Rückruf notiert hatte. Auch das noch! Hätte sie denn nicht wenigstens an ihrem ersten Tag bei der Mordkommission unbehelligt bleiben können? Wütend fuhr sie sich mit der freien Hand durch die Haare, wobei sie die Labilität ihrer Frisur vergaß, und als sie ihr wieder einfiel, war es bereits zu spät. Die dichten Seitenpartien, die sie ohnehin nur mit äußerster Mühe in den Gummiring gezwirbelt hatte, lösten sich und fielen nach vorn in ihr Gesicht, um diesem – daran zweifelte sie keine Sekunde – erneut jenen ungesund wirkenden Gelbstich zu verleihen, der sie schon früher an diesem Morgen an den Rand eines Nervenzusammenbruchs getrieben hatte. Ungehalten strich sie die Strähnen hinter ihr Ohr zurück.
    »Ich wusste nicht, wohin damit«, Werneuchen zeigte auf den Zettel in ihrer Hand, »wo Sie doch noch keinen Schreibtisch haben.« Er blickte sich nach Verhoeven um, der in der Tür zum Sekretariat stand und in aller Eile seinen Postkorbdurchsah. »Und dann sollt ihr auch gleich zu Hinnrichs kommen.«
    »Natürlich«, entgegnete Verhoeven zerstreut.
    »Soll ich unterdessen vielleicht schon mal . . . ?«
    »Was?«
    Werneuchen deutete auf die Verbindungstür in der gegenüberliegenden Wand. »Grovius’ Schreibtisch ...«
    »Nein«, sagte Verhoeven. »Das mache ich. Wenn Sie sich noch ein paar Stunden gedulden könnten?« Er drehte sich fragend zu Winnie Heller um. »Ich bin einfach noch nicht dazu gekommen.«
    »Es eilt nicht. Wirklich.« Sie merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, und hoffte inständig, dass ihre neuen Kollegen die blühende Farbe ihrem Ausflug in die frische Waldluft zuschreiben würden. »Aber vielleicht würden Sie ja in Zukunft gern selbst dort sitzen?« Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. »Ich meine, es würde mir nichts ausmachen, meine Zelte woanders aufzuschlagen.«
    »Nein«, sagte er noch einmal.
    Werneuchen stand auf. »Ich wollte sowieso kurz in die Kantine.« Er lächelte Winnie Heller an. »Sie können gern meinen Apparat benutzen.«
    »Was?«
    »Um Ihre Mutter zurückzurufen.« Er deutete wieder auf den Zettel, den er ihr ausgehändigt hatte.
    »Nicht nötig«, antwortete sie hastig. »Ich habe ein Handy.« »Dann gehe ich schon mal vor«, sagte Verhoeven.
    Sie nickte. »Es dauert nicht lange.«
    Als sie rund zehn Minuten später Hinnrichs’ Büro betrat, hatte sie ihr Haar in Ordnung gebracht und ihren fleckigen Teint mit reichlich kaltem Wasser erfrischt. Die Aktion hatte den Ärmel ihres Sweatshirts durchnässt, aber das fiel ihr erst auf, als sie bereits saß. Verhoeven berichtete gerade von derChrysantheme, die der Mörder in der Bauchhöhle der Leiche abgelegt hatte. Hinnrichs hörte aufmerksam zu. Seine Miene war ernst. Mit einem kurzen Kopfnicken bedeutete er ihr, Platz zu nehmen.
    Nachdem Verhoeven geendet hatte, herrschte einige Augenblicke eine angespannte Stille.
    »Und was halten Sie von dieser Sache?«, wandte sich Hinnrichs schließlich an seine neue Mitarbeiterin.
    Winnie Heller ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. So lange, dass Verhoeven schon fürchtete, sie werde überhaupt nichts mehr sagen. Er wusste nicht genau, warum, aber irgendwie hätte er ihr das zugetraut. Eine Totalverweigerung. Was hatte Hinnrichs doch gleich über sie gesagt? Sie ist ein bisschen schwierig, aber das stört Sie ja nicht weiter ... Doch, dachte Verhoeven bei sich. Es stört mich. Es stört mich sogar ganz gewaltig. Er betrachtete sie und dachte einmal mehr, dass sie älter aussah, als sie war, ohne dass er diesen Eindruck an einem konkreten Merkmal festmachen konnte. Im Gegenteil: Ihre Gesichtshaut war glatt und pfirsichzart.
    »Zunächst einmal glaube ich, dass wir es hier mit einem vorsätzlichen Verbrechen zu tun haben«, sagte sie endlich mit einer Ernsthaftigkeit, die ihn gegen seinen Willen an seine Tochter erinnerte.

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