Der Beutegaenger
keine Bekanntschaften, keine Rosen ...
Sie nahm das Steakmesser, das neben ihrem Teller lag, und zwang sich, es eine Weile zu betrachten. Die Schärfe seiner Klinge zu fühlen. Den kühlen Stahl auszuhalten. Sie hatte immer so wenige Messer wie möglich in ihrer Nähe haben wollen. Messer erinnerten sie an tote Katzen. Und der Gedanke an tote Katzen ließ sie frösteln. Deshalb gab es im ganzen Haus nur zwei Messer. Eines für den täglichen Gebrauch und eines als Reserve, für den Notfall. Damit sie nicht sofort ein neues zu kaufen brauchte, wenn das Messer, mit dem sie ihre Brötchen aufschnitt, einmal kaputtging. Wie idiotisch, dachte sie bei sich, Messer gehen nicht kaputt! Ihre Finger pflückten etwas von dem warmen Teig aus dem Inneren des Brötchens und rollten ihn zu einer kleinen Kugel zusammen, die sie neben ihren Teller auf den Tisch legte. Dann goss sie sich eine Tasse Kaffeeein. Irgendwann hatte sie daran gedacht, sich sämtliche Lebensmittel, die sie benötigte, ins Haus liefern zu lassen, um die schwierigen Einkäufe zu umgehen. Immerhin bot jeder Supermarkt heutzutage solche Dienstleistungen an. Aber dann war ihr klar geworden, dass auf diese Weise ihr Name erscheinen würde. Ihr Name auf einem Lieferschein, auf einer Liste, irgendwo in jemandes Computer. Ihr Name, ihre Daten, ihr Eigentum. Also keine Lieferungen. Keine Lieferungen, keine Mitgliedschaften, keine Kundenkarten ...
Sie griff nach dem Glas mit dem Honig. Draußen vor dem Fenster tobte ein Herbsttag wie aus dem Bilderbuch. Keine Spaziergänge, keine Fahrradtouren, keine Ausflüge ...
Ihre Finger krallten sich um den Henkel ihrer Tasse. Kein Herbstlaub unter ihren Füßen, keine Oktobersonne im Gesicht, keine Katzen ...
Es war nicht vorbei. Es ist niemals vorbei!
Der Instinkt, der ihn betraf, sagte ihr, dass es nicht vorbei war, und deshalb überlegte sie sehr lange, ob sie an diesem strahlenden Herbstmorgen überhaupt das Haus verlassen sollte.
Sie fuhren ein Stück in den Waldweg hinein. Der Tatort war weiträumig mit rot-weißem Plastikband gesichert. Einsatzfahrzeuge parkten rechts und links des Wegs. Hinter der Absperrung entdeckte Verhoeven den uralten taubenblauen Mercedes von Hermann-Joseph Lübke, der seit einigen Jahren der erkennungsdienstlichen Abteilung des Präsidiums vorstand. Wie der ehemalige Bundespräsident, sagte er immer, wenn ihn jemand nach seinem Namen fragte. Und Joseph mit »ph«. Ein augenscheinlich trotz seines Alters gut austrainierter Mann im Jogginganzug stand bei einem der Streifenwagen und redete auf einen uniformierten Beamten ein. Ein zweiter Mann saß etwas abseits auf einem Baumstumpf und kraulte gedankenverloren das Fell eines Schäferhunds.
Verhoeven hielt hinter Lübkes Benz und warf einen flüchtigen Seitenblick auf seine neue Partnerin. Sie sah mit angespannter Miene aus dem Fenster und kaute auf ihrem Daumennagel herum. Unter ihrem Haaransatz glitzerten feine Schweißperlen. Sie hatten nicht viel gesprochen auf der Fahrt. Nur ein paar belanglose Sätze. Nichtigkeiten.
»Heißen Sie tatsächlich Winnie?«
»Winifred.« Sie hatte beinahe entschuldigend mit den Achseln gezuckt. »Meine Eltern sind begeisterte Wagnerianer.« »Und Sie?«
»Bitte?«
»Mögen Sie klassische Musik?«
»Nein.«
Er hatte den unbestimmten Eindruck gehabt, ihr bereits mit diesen harmlosen Fragen zu nahe getreten zu sein. Da war etwas in ihrem Blick gewesen, etwas Abweisendes, Ausweichendes, und er hatte das unbequeme Gefühl, dass sie nie einen guten Draht zueinander haben würden. Immerhin hatte sie nicht gesagt, wie leid ihr das alles täte. Die Sache mit Grovius. Er hatte es allmählich satt, das zu hören.
Als sie aus dem Wagen stiegen, trat eine junge Polizistin auf sie zu. Verhoeven zeigte seinen Ausweis. »Polizeiobermeisterin Everts«, stellte sich die Beamtin vor. »Mein Kollege und ich waren als Erste vor Ort.«
Verhoeven deutete auf die Männer, die bei den Einsatzfahrzeugen standen. »Sind das die Herren, die die Leiche gefunden haben?«
Sie nickte. »Möchten Sie mit ihnen sprechen?«
»Nicht jetzt«, winkte er ab. »Wir sehen uns zunächst den Tatort an.«
Sie folgten der Kollegin von der Streife ein Stück den Waldweg entlang und dann nach rechts, etwa dreißig Meter tief ins Unterholz. Durch die lichten Baumkronen fielen breite Streifen strahlenden Sonnenlichts auf den durchweichten Waldboden und ließen das nasse Laub glitzern. Ein kräftiges Herbstaroma schwang zwischen den
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