Der Beutegaenger
Sie sah ihn an, und Verhoeven musste unwillkürlich an einen Jagdhund denken, der eine Ente apportiert hatte, um sie ihm nun erwartungsvoll und schwanzwedelnd vor die Füße zu legen. »Der Täter hat ihr die Bauchhöhle aufgeschlitzt und eine Chrysantheme hineingelegt.«
Eine Chrysantheme ... Blumen. Grabschmuck. Verhoeven starrte die große gelbe Blüte an. Eine fröhliche Farbe. Flores , wisperte eine unangenehme Frauenstimme irgendwo in seinem Kopf. Flores para los muertos. Er richtete sich wieder auf und sah sich nach seiner Kollegin um. Winnie Heller lehnte dicht hinter ihnen an einem bemoosten Baumstamm und blickte unverwandt auf die Leiche hinunter, offenkundig wild entschlossen, sich nicht die geringste Schwäche nachsagen zu lassen. Ihr kupferrotes Haar funkelte im Sonnenlicht, auf ihrem Gesicht spielten die Farben des Herbstes. Verhoeven merkte, dass er sich nicht mehr so entspannt fühlte wie früher. Bei Grovius hatte er gewusst, woran er gewesen war. Zwischen ihnen hatte es eine klare Rollenverteilung gegeben. Klare Konturen. Seit Grovius tot war, verschwamm alles.
Er wandte sich wieder der Toten zu und überlegte, ob sie wohl eine Familie hatte. Wartete gerade jetzt, in diesem Augenblick, irgendwo in der Stadt jemand auf ihre Rückkehr? Wir werden es bald wissen, dachte er, obwohl er es vorgezogen hätte, es nie zu erfahren. »Ist sie vergewaltigt worden?«
»Es gibt keinerlei Hinweise auf einen sexuellen Übergriff«, entgegnete die Pathologin ohne Zögern, bevor sie etwas vorsichtiger hinzufügte: »Endgültig kann ich das natürlich erst nach einer eingehenden Untersuchung sagen.«
»Und die Tatwaffe?«
Dr. Gutzkow richtete ihr Instrument wie einen Zeigestock auf den Hals der Toten. »Sehen Sie, es ist praktisch keine Strangmarke erkennbar, aber die Stauungserscheinungen sind relativ stark ausgeprägt. Ich würde daher annehmen, dass der ausgeübte Druck auf den Hals breitflächig war.« Sie zögerte einen Augenblick und blickte Verhoeven aus ihren kühlen grauen Wissenschaftleraugen erwartungsvoll an. Als er nicht reagierte, ließ sie sich mit spürbarem Widerwillen zu einer etwas genaueren Erklärung herab: »Ein breites, weiches Halstuch vielleicht. Oder ein Schal . ..«
Verhoeven riss den Blick vom Hals des Opfers los. »Ich danke Ihnen.«
Die Pathologin schenkte ihm ein kurzes, unsentimentales Lächeln und klappte ihren Koffer zu. »Mein vollständiger Bericht liegt Ihnen morgen vor.« Sie erhob sich mit einem leisen Stöhnen aus ihrer gebückten Haltung und streckte Verhoeven die Hand hin. »Hat mir wirklich leidgetan, aber ich hatte Dienst.«
Er sah sie verständnislos an.
»Gestern«, sagte sie, und erst mit Verzögerung wurde ihm klar, dass sie von Grovius sprach. Von Grovius’ Begräbnis. Er nickte nur. Mehr brachte er noch immer nicht zustande. Sie nickte ebenfalls und ging davon.
Seine Kaffeetasse stand mitten in einer Lache aus Blut, aber es war altes Blut, eine zähe, gallertartige Masse, von der er wusste, dass man sie Blutkuchen nannte. Wie passend, dachte er bei sich. Mittagspause mit Kaffee und Blutkuchen.
Seine Augen suchten den Nachbartisch, an dem zwei Frauen saßen, die er nur vom Sehen kannte. Hier ein kurzer Augenblick im Fahrstuhl. Dort eine flüchtige Begegnung auf dem Gang. Nichts, das ihn auch nur im Mindesten interessiert hätte. Trotzdem hatte er ihre Blicke registriert. Das deutliche sexuelle Interesse, das daraus sprach. Die erweiterten Pupillen, mit denen sie ihn und seine Reaktion auf ihre Anmache taxierten. Und die Routine, mit der sie sich anschließend über den vermeintlichen Erfolg ihrer Bemühungen austauschten. Noch waren die beiden Verbündete, aber er wusste, wenn er auf eine von ihnen einginge, würde sich das schleunigst ändern. Dann würde das harmlose Spiel zu einer gnadenlosen Jagd werden. Sie würden beginnen, ihre Reize, die ihn kaltließen, gegeneinander auszuspielen, und die Verliererin würde ein paar Wochen brauchen, bis sie sich wieder normal mit ihrer Freundin unterhalten konnte.
Wenn sie sehen könnten, was ich sehe, dachte er und schenkte der Dunkleren von beiden sein Routinelächeln. Sie war etwa dreißig. Leicht schräg stehende grüne Augen in einem Fleck aus dunkelgrauem Kajal, der zerlaufen aussah. Dazu trug sie ein dekolletiertes petrolfarbenes T-Shirt und einen pflegeleichten Polyesterhosenanzug aus dem Versandhauskatalog. Sie warf den Kopf zurück und erwiderte sein Lächeln mit leicht geöffneten Lippen.
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