Der Beutegaenger
Erstellte sich ihre Schreie vor, während er langsam den Kopf abwandte und wieder den Blutfleck auf seinem Tisch betrachtete, der langsam eintrocknete und dabei immer dunkler wurde.
Rostrot wie das Laub gestern im Wald.
Ihr Fleisch. Modrig. Entleert.
Die Augen, im Tod so reizlos wie im Leben.
Trotzdem hatte er noch eine kleine Weile neben ihr ausgeharrt, nachdem der unangenehme Teil seiner Arbeit erledigt gewesen war. Er hatte auf sie heruntergeblickt wie der Jäger auf ein erlegtes Wild und daran gedacht, mit welch immensem Auf wand das Fleisch eines geschächteten Tiers koscher gemacht wurde. Er hatte schon als Kind darüber gelesen. Ein Buch seines Vaters. Das Fleisch eines Schlachttiers durfte weder newela noch terefa – weder verendet noch zerrissen – sein und keinerlei Blut oder Adern enthalten, in denen sich noch geronnene Blutreste befinden könnten. Und alles Fett war für den Herrn. Was für eine Verschwendung, dachte er , als ihm urplötzlich wieder einfiel, dass besonders strenggläubige Juden es sogar vermieden, die Hinterviertel eines Schlachttiers zu essen, aus lauter Angst, dass ein bestimmtes Stück Muskelfleisch, jenes, in welchem der Ischiasnerv verlief, nicht ordnungsgemäß entfernt worden war. Hinterviertel waren gefährlich, weil ... Wie war das doch gleich gewesen? Sein Finger umfuhr den Rand des rostroten Flecks auf dem Tisch, während er sein Gedächtnis nach einer Erinnerung absuchte. Jakob hatte irgendwo auf seinen Bruder Esau gewartet und war nachts von einem Unbekannten überfallen und auf die Hüfte geschlagen worden, oder? Was für eine Verschwendung, dachte er wieder. Ein einziger Klaps auf den Arsch, und schon konnte man in alle Ewigkeit das halbe Tier wegschmeißen!
Die Frauen am Nebentisch grinsten ihn an. Er sah es aus den Augenwinkeln. Die Dunkle hob ihre Tasse. Als wolle sie ihm zuprosten.
Er tat es ihr gleich und betrachtete sie ein wenig länger als zuvor, auch, weil er spürte, dass sie dergleichen von ihm erwartete. Unter seinem Blick veränderte sich ihr teigiges Gesicht und nahm für einen winzigen Augenblick die Züge jener Frau an, die er als Nächstes im Visier hatte. Das Notizbuch in seiner Brusttasche war voll mit ihren Daten. Wann, wo, mit wem, wie oft. Genau wie die andere war sie erschreckend berechenbar. Dazu ein wenig größer und genauso fit.
Aber diese Fitness hatte er einkalkuliert.
Genau wie alles andere.
Sein Blick wurde wieder klar, und er bemerkte, dass die Dunkelhaarige am Tisch nebenan inzwischen ernsthaft geschmeichelt war. Der Ausdruck von Triumph in ihren trüben Augen amüsierte ihn. Er zwinkerte ihr zu, nahm seine Tasse vom Tisch und stellte sie gewissenhaft auf den Wagen an der Geschirrrückgabe, bevor er leichten Schrittes die Kantine verließ.
»Sind Sie Frau Heller?«
»Ja.«
»Dann habe ich hier eine Nachricht für Sie.« Stefan Werneuchen, ein hochgewachsener Mann mit Stirnglatze, den Winnie Heller spontan auf Anfang bis Mitte dreißig schätzte, reckte sich über die Aktenberge auf seinem Schreibtisch hinweg und reichte ihr einen grauen Notizzettel, wobei er sich sichtlich bemühte, sie nicht allzu offensichtlich anzustarren. Er hatte bereits von ihr gehört, daran bestand kein Zweifel, und sie konnte sich lebhaft vorstellen, welcher Art die Informationen waren, die ihre neuen Kollegen über sie erhalten hatten. Paul Cartier war einer, der nachtrat. Die Heller? Ach, du liebe Güte, da sind Sie aber ganz und gar nicht zu beneiden. Mich hat diese frigide Kuh an den Rand des Wahnsinns getrieben, kann ich Ihnen sagen ... Sie schluckte. Wenn es nur das ist, was sie über dich wissen, ist doch alles im Lot, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Eine frigide Kuh, damit konnte sie leben. Und von der anderen Sache hatte selbst so ein widerlicher Allwisser wie Paul Cartier keine Ahnung. Woher auch? Die Klinik, in der sie nach dem Unfall ihrer Schwester gewesen war, galt als teuer und diskret, außerdem unterlagen auch Psychologen der ärztlichen Schweigepflicht. Und dennoch... Die Tatsache, dass sie ihre vierzehnmonatige Therapie bei der Meldung zum Auswahlverfahren für den gehobenenKriminaldienst des Bundes verschwiegen hatte, schwebte über ihrer Karriere wie das sprichwörtliche Damoklesschwert. Aber sie hatte keine Wahl gehabt. Der »Zustand nach nervenärztlicher/psychotherapeutischer Behandlung«, wie er im Merkblatt zur Polizeidiensttauglichkeit genannt wurde, gehörte zu den sogenannten »eventuellen
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