Der Beutegaenger
»Der Täter hatte ein Messer oder Skalpell bei sich, mit dem er die Leiche . . .« Sie stutzte. Das Wort kam ihr ganz offensichtlich nicht so leicht über die Lippen, wie sie erwartet hatte, aber sie wollte es sich auch nicht ersparen. »... mit dem er die Leiche aufgeschlitzt hat«, schloss sie. »Abgesehen davon konnte er kaum damit rechnen, an einem Wochentag um diese Uhrzeit und noch dazu bei so schlechtem Wetter überhaupt einer Menschenseele im Wald zu begegnen. Erst recht keiner Frau.« Sie überlegte einen Augenblick. »Vermutlich wusste er, dass sie joggen gehen wollte. Vielleicht ist er ihr auch von irgendwoher gefolgt.«
»Irgendwelche Zeugen?«
Verhoeven schüttelte den Kopf. »Die Kollegen sind dran, aber bislang hat sich niemand gemeldet.«
»Ich weiß nicht«, murmelte Hinnrichs und starrte gedankenverloren auf die Fotografie einer dunkelhaarigen Frau, die neben seinem Telefon stand und vermutlich seine aktuelle Freundin zeigte. Verhoeven hatte sich schon oft gefragt, wo ein Mann wie Hinnrichs bei allem gesellschaftlichen Ehrgeiz auch noch die Zeit für ein Privatleben hernahm. »Das mit der Blume ist doch krank.«
»Oder es soll krank aussehen«, wandte Winnie Heller ein. Das erdige Wasser der Pfütze, in die sie getreten war, hatte ihre Hosenbeine mit braunen Pünktchen gesprenkelt, aber das schien sie gar nicht zu bemerken. Eitelkeit gehört anscheinend nicht zu ihren bevorzugten Eigenschaften, dachte Verhoeven. Oder doch? Was war mit dieser seltsamen Haarfarbe? Schließlich hatte kein Mensch so etwas von Natur aus. Unwillkürlich suchten seine Augen ihren Haaransatz, und er ertappte sich bei der Überlegung, was sie unternehmen müsse, um hübsch auszusehen. Um ihren Pfirsichteint zur Geltung zu bringen, ihre Jugend.
»Vielleicht haben ja Blumen – oder ganz speziell Chrysanthemen – eine besondere Bedeutung für das Opfer«, schlug er vor, als ihm auffiel, dass Hinnrichs ihn ansah.
»Das sollten Sie so schnell wie möglich klären«, nickte dieser und kramte in der obersten Schublade seines Schreibtischs nach irgendetwas, das er nicht fand. Sichtlich entnervt schob er die Lade wieder zu. »Was wissen wir bisher über die Frau?«
Winnie Heller klappte ihren Notizblock auf. »Man hat einen Schlüsselbund samt Autoschlüssel neben der Leiche gefunden. Er gehörte zum Wagen des Opfers, einem Passat, der auf einem Parkplatz abgestellt war, rund zweihundertfünfzigMeter vom Fundort der Leiche entfernt. Im Wagen befand sich die Brieftasche der Toten mit ihrem Führerschein, den Fahrzeugpapieren und ihrem Personalausweis.« Sie blätterte eine Seite weiter. »Susanne Leistner. Einunddreißig Jahre alt. Hier aus der Stadt. Verheiratet.«
»Ist der Ehemann schon informiert?«
Verhoeven nickte. »Die Kollegen von der Streife haben das übernommen.«
Hinnrichs blickte kurz auf, und Verhoeven wusste genau, was er dachte. Das wäre Ihr Job gewesen. Ihr Fall. Ihre Verantwortung. »Warum, zum Teufel, geht eine junge Frau bei einem solchen Sauwetter überhaupt in den Wald?« Hinnrichs schüttelte verständnislos den Kopf. »Noch dazu allein?«
Verhoeven zuckte mit den Achseln. »Vielleicht war sie dort verabredet.«
»Ich möchte, dass Sie umgehend mit dem Ehemann sprechen.« Hinnrichs blickte an Verhoeven vorbei zur Tür, wo seine Sekretärin mit einem Arm voller Akten stand und mit dem Kinn auf die Uhr an der Wand wies. »Fahren Sie am besten gleich hin, bevor er Zeit hat, sich alle seine Antworten im Voraus zu überlegen. Und klappern Sie das gesamte Umfeld ab. Ich möchte diese Geschichte so rasch wie möglich aufgeklärt wissen.«
Die beiden Kommissare erhoben sich von ihren Stühlen.
»Die Sache gefällt mir nicht«, murmelte Hinnrichs.
Die Wohnung, in der Susanne Leistner zu Hause gewesen war, lag im Parterre eines hübsch restaurierten Bürgerhauses in der Adolfsallee, wenige Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt. Auf dem großzügigen Grünstreifen, der die Straße teilte, hatten sich die alten Kastanienbereits in die Farben des Herbstes gekleidet. Ein gebrechlicher alter Mann mit Gehhilfe stand auf der Treppe vor dem Eingang und hielt ihnen die Tür auf. Seine Haut war so durchscheinend wie Pergament. An Hals und Stirn schimmerte ein Geflecht dünner blauer Adern hindurch.
Neben der Wohnungstür hing ein unlackiertes Holzschild, das die Form eines Apfels hatte. LEISTNER war in Einbrennertechnik darauf zu lesen, darüber die Buchstaben S+G+A. Verhoeven musste unwillkürlich
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