Der Beutegaenger
Anwesenheit überhaupt noch bewusst war.
»Ihre Tochter heißt Amelie?«
Susanne Leistners Witwer hob verwundert den Kopf. Die Frage erschien ihm offenbar völlig absurd. Statt zu antworten, sah er in Richtung Gartentür. Die Kleine auf dem Baumwollplaid schien noch immer völlig in ihr Spiel versunken. Ihr blondes Haar ringelte sich im Nacken zu feinen Löckchen.
Verhoeven verspürte ein schmerzhaftes Stechen in der Magengegend. Die vergangene Nacht hatte Spuren hinterlassen,und außer einem trockenen Toastbrot und etwas Kaffee zum Frühstück hatte er noch nichts gegessen. »Wer wollte Amelie mitnehmen?«, hakte er nach, als Gernot Leistner nichts sagte.
»Meine Schwiegereltern«, antwortete Susanne Leistners Witwer mechanisch. »Sie haben gesagt, sie wollen mich entlasten.« Er lachte laut auf. Es klang verloren. »Sie wird nächsten Montag drei. Amelie, meine ich.«
Verhoeven räusperte sich. »Was machen Sie beruflich?« »Ich bin Lektor.«
»Und Sie arbeiten zu Hause?«
Er nickte nur.
Verhoeven blickte an ihm vorbei in den Garten hinaus und dachte, es müsse ein ungeheures Privileg sein, zu Hause zu arbeiten. Von morgens bis abends bei seinem Kind zu sein. Es aufwachsen zu sehen. Zur Stelle zu sein, wenn es sich das Knie aufschlug oder Ärger mit einem Jungen aus der Kindergartengruppe hatte. Solche Dinge. Warum wusste Silvie dieses Privileg nicht zu schätzen? Konnte die Anerkennung durch die eigenen Eltern, das Ausstechen der vermeintlich erfolgreicheren Schwester allen Ernstes so wichtig sein? Oder ging es in Wahrheit um etwas ganz anderes? Gedankenverloren griff er in sein Jackett und zog seinen Notizblock heraus. Er selbst hatte nicht für den Bruchteil einer Sekunde mit dem Gedanken gespielt, Erziehungsurlaub zu nehmen. Und Grovius hätte ihn schlicht für verrückt erklärt, wenn er es getan hätte. Gütiger Himmel, Junge, das ist doch wohl nicht dein Ernst! Raus ist raus, da führt kein Weg dran vorbei. Und du willst doch wohl nicht für den Rest deines Lebens dem Vorsprung hinterherrennen, den sich die lieben Kollegen in der Zwischenzeit verschafft haben, oder? Den Anschluss verlieren, um ein paar Monate oder gar Jahre Hausfrau und Mutter zu spielen? Nee, nee, das lass mal lieber bleiben. So weit sind wir nochnicht, dachte Verhoeven. Nicht bei der Polizei. Nicht bei diesem Machoverein. Und sonst? Was war mit dem Rest der Gesellschaft? Er legte den Block vor sich auf den Couchtisch und sah wieder den schmächtigen Mann an, der im Sessel gegenüber saß. Lag es an der aktuellen Situation, dass er so unglücklich wirkte? Oder gab es doch ein Manko, irgendwo in seinem Leben? Etwas, das nicht genügte, trotz der Privilegien eines Heimjobs, den Gernot Leistner mit dem zweiten Einkommen seiner Frau im Rücken sogar einigermaßen gelassen angehen konnte? Mit Mühe widerstand Verhoeven dem Impuls, danach zu fragen.
»Wann hat Ihre Frau gestern früh das Haus verlassen?«, schaltete sich Winnie Heller ein, der die Pausen in diesem Gespräch ganz offensichtlich zu lang wurden. Sie saß weit vorn, direkt auf der Sofakante. Wie auf dem Sprung. Offenbar war sie ihrerseits entschlossen, den Anschluss nicht zu verpassen.
Gernot Leistner schluckte unter ihrem Blick. »Sie ist um kurz nach acht zur Arbeit gefahren«, sagte er. »Ganz wie sonst auch. Ihr Dienst beginnt um halb neun.«
»Ihre Frau arbeitete in der Leuthauser-Stiftung?«
»In der Verwaltung«, nickte er. »Das Büro hat auch schon angerufen. Sie wollten wissen, wo Susanne bleibt.« Er warf einen unsicheren Blick in Verhoevens Richtung. »Ich habe die Wahrheit gesagt. Ich meine, hätte ich .. . ?«
»Das war schon in Ordnung.« Verhoeven lächelte ihn an. »Wir werden uns nachher ohnehin noch mit den Kollegen Ihrer Frau unterhalten.«
»Ich verstehe.« Er nickte. »Das ist gut.«
»Ist Ihnen gestern Morgen irgendetwas Besonderes aufgefallen?«, fragte Winnie Heller in die kurze Stille, die dem Wortwechsel der beiden Männer gefolgt war, und Verhoeven wunderte sich über die Selbstverständlichkeit, mit der sie dieGesprächsführung an sich riss. Hatte er sich tatsächlich eingebildet, die Rollenverteilung zwischen ihnen würde sich von selbst ergeben? Das hier entscheidet sich nicht automatisch über den Dienstrang, dachte er. Ab heute ist es ein Wettbewerb.
»Hat Ihre Frau sich vielleicht irgendwie anders verhalten als gewöhnlich?«, insistierte Winnie Heller neben ihm.
Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens schüttelte Gernot Leistner
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