Der Beutegaenger
den Kopf. »Ich würde sagen, sie war genau wie immer.«
»Hat sie darüber gesprochen, nach der Arbeit noch joggen gehen zu wollen?«
»Nein.« Er zuckte mit den Achseln. »Aber das hat sie nie getan. Ich habe es mir nur gedacht, weil ihre Laufsachen nicht da waren.«
»Sie sagte nicht, dass es später werden würde?«
»Nein«, wiederholte er. »Meine Frau hat nie gesagt, wann sie nach Hause kommt. Gewöhnlich war sie allerdings spätestens um siebzehn Uhr hier.«
Er lügt, dachte Verhoeven. Was das betrifft, lügt er. »Ging Ihre Frau regelmäßig joggen?«
»Mehrmals die Woche.«
»Und immer allein?«
Über das Gesicht des Lektors huschte ein Ausdruck, den Verhoeven nicht deuten konnte. »Susanne mochte es nicht, wenn man etwas allzu genau wissen wollte«, antwortete Gernot Leistner. »Sie brauchte ihren Freiraum, wissen Sie.«
Verhoeven betrachtete eine große, wassergefüllte Glasschale, die auf dem Couchtisch stand. Auf dem Grund lagen bunte Zierkiesel, und an der Wasseroberfläche schwammen Teelichte und Blumen. Rote Gerbera. Weiße Astern. Keine Chrysanthemen. »Ihre Frau mochte Blumen?«
Susanne Leistners Witwer war seinem Blick gefolgt. Unvermittelthuschte ein scheues, beinahe jungenhaftes Lächeln über sein Gesicht. »Um die Ecke ist ein Blumenladen«, sagte er. »Dort heben sie immer die abgebrochenen oder schon etwas welken Blumen für Amelie und mich auf. Daraus machen wir dann Kränze oder ... Na ja, eben irgendwelche Arrangements.« Er warf seiner Tochter einen liebevollen Blick zu. »Amelie liebt Blumen, wissen Sie.«
»Und Ihre Frau?«, beharrte Verhoeven. »Liebte sie auch Blumen?«
Gernot Leistner sah irritiert aus. »Sicher.« Er schien nachzudenken. »Ich meine, ich weiß nicht genau. Jeder Mensch liebt Blumen, oder?«
»Haben Sie und Ihre Frau einander bestimmte Blumen geschenkt?«, fragte Winnie Heller, ohne auf seine letzte Bemerkung einzugehen. »Hatte vielleicht eine bestimmte Sorte Blumen eine Bedeutung für Sie beide?«
Susanne Leistners Witwer schien immer verwirrter. »In Susannes Brautstrauß waren Rosen«, murmelte er. »Aber sonst ... Ich weiß nicht. Wir haben nur sehr selten Blumen gekauft. Richtige, meine ich. Frische . . .« Er blickte sich um. »Und wenn, waren sie eigentlich eher für die Wohnung bestimmt. Wenn wir Gäste hatten.«
Verhoeven betrachtete die Hände des Lektors. Sie waren blass und zartgliedrig. Kein Zweifel, dachte er, die Tochter kommt nach ihm. »Hatte Ihre Frau gestern irgendetwas vor?«
»Keine Ahnung.« Gernot Leistner hob eine schwarzweiße Stoffkuh vom Boden auf und drückte sie gedankenverloren an sich. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass Susanne nicht darüber sprach, was sie vorhatte.«
Du hast auch gesagt, dass sie meistens um fünf zu Hause gewesen ist, dachte Verhoeven. Laut sagte er: »Vielleicht hat Ihre Frau sich etwas notiert. In einem Kalender vielleicht. Oder einem Tagebuch.«
»Meine Frau hat niemals Tagebuch geführt«, entgegnete der Witwer mit Bestimmtheit. »Aber ich glaube, sie hatte einen Kalender, in dem sie ihre Termine und Telefonnummern und all so was notierte. Soll ich ihn holen?«
»Das wäre sehr hilfreich.«
Er erhob sich. »Es kann einen Moment dauern.«
Verhoeven nickte, obwohl er überzeugt war, dass Gernot Leistner ganz genau wusste, wo sich der Kalender seiner Frau befand. Er spürte, dass der andere eine Auszeit benötigte, ein paar Augenblicke des Abstands, um wieder zu Kräften zu kommen, und er war willens, ihm diese Auszeit zuzugestehen. Während sie warteten, sah er wieder zu Amelie hinüber. Sie hatte ihr Spiel unterbrochen, als ihr Vater das Zimmer verlassen hatte, und obwohl sie ihnen noch immer den Rücken zuwandte, hatte Verhoeven das unbedingte Gefühl, dass sie genau mitbekam, was hier vor sich ging. Sie weiß genau, weshalb wir hier sind, dachte er, und der Gedanke jagte ihm einen Schauder über den Rücken. Für dieses Kind werden wir bis in alle Ewigkeit der fremde Mann und die fremde Frau sein, die ihm seine Mutter genommen haben. Der wühlende Schmerz in seinem Magen verstärkte sich. Wenn sie hier fertig waren, musste er unbedingt etwas essen.
Er sah zu Winnie Heller hinüber, die sich mit unbewegtem Gesicht Notizen machte. Du musst Duftmarken setzen , flüsterte Grovius in seinem Kopf, und Verhoeven erinnerte sich an verschiedene Gelegenheiten, bei denen sein Mentor genau das getan hatte. Gerangel um Zuständigkeiten, Kollegen, die einen Fall für sich beanspruchten, die
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