Der Beutegaenger
sie besonders. Ein kleiner See mit weichem Wasser, das im Sommer manchmal ihre erhitzten Fußknöchel umschmeichelt hat. Damals, als sie sich noch getraut hat, am Sonntag mit ihren Eltern spazieren zu gehen. Es ist ganz still, als sie graben, kein Lüftchen, nicht einmal ein Flugzeug über ihren Köpfen. Ihr Vater erzählt etwas vom Kreislauf des Lebens, von Humus und vom Aufgehen der Dinge ineinander. Sie denkt da eher an Ratten und Käfer, Zersetzung und Verfall. Aber das sagt sie nicht laut.
Vielleicht wächst an dieser Stelle einmal eine besonders schöne Eiche . Der Vater überlässt ihr die Schaufel. Die lockere Erde nur noch glatt zu streichen. Kein Kreuz, keine Blumen, keinen Hinweis. Minnie soll ihre Ruhe haben. Wenigstens jetzt. Im Tod. So eine wie die dort drüben. Siehst du?
Eine Eiche, gedüngt mit Minnies Kadaver. Wie tröstlich. Ja, vielleicht.
Sie sieht ihm an, dass er mit dem Gedanken spielt, etwas zu unternehmen. Auf eigene Faust. Etwas, das nicht legal ist.
Während sie die Erde glatt streicht, überlegt sie, ob sie ihn darauf ansprechen soll. Ihn abhalten. Aber da ist etwas tief in ihr, das sie zurückhält. Das danach schreit, sich zu rächen. Ihn verletzt zu sehen. Am Boden. So wie Minnie. Insgeheim will sie, dass erleidet. Selbst wenn ihr Vater dadurch in Schwierigkeiten gerät.
Können wir?
Sie nickt. Nickt und wartet, dass ihr Vater handelt. So lange, bis sie verstanden hat, dass auch Eltern nicht allmächtig sind. Dass es Grenzen gibt, sogar für den Schutz, den ein Vater seiner Tochter geben kann.
Noch so eine Lektion, die sie nie hatte lernen wollen.
Dienstag, 14. November 2006
»Tut mir leid, dass ich Sie an Ihrem freien Vormittag behelligen muss.«
»Kein Problem.« Winnie Heller rammte das Bügeleisen in die dafür vorgesehene Halterung des Bügelbretts und nahm ihr Handy in die andere Hand. »Was gibt’s?«
»In einem Gebüsch am Sonnenberg haben sie eine tote Frau gefunden, und Dr. Gutzkow ist der Ansicht, dass die Sache uns angehen könnte.«
»Ach, du Scheiße.«
»Allerdings.« Verhoeven räusperte sich. Es klang irgendwie gehetzt. »Wo sind Sie gerade?«
»Zu Hause.«
»Soll ich Sie abholen?« Er zögerte. »Es kann allerdings einen Moment dauern, ich muss zuerst meine Tochter in die Tagesstätte bringen.«
Etwas an seiner Stimme vermittelte ihr den Eindruck, dass er verärgert war, ohne dass sie sich erklären konnte, was der Grund dafür war. Etwa die Tochter? Sie runzelte die Stirn. In den knapp vier Wochen, die sie nun zusammenarbeiteten, waren sie einander noch nicht nennenswert nähergekommen, und Verhoeven schien die Distanz, die zwischen ihnen herrschte, ebenso recht zu sein wie ihr. »Danke«, sagte sie. »Nicht nötig.«
»Dann treffen wir uns dort?«
»Alles klar.«
Nachdem er ihr eine kurze Wegbeschreibung gegeben hatte, zog sie den Stecker des Bügeleisens aus der Steckdose und stellte es zum Auskühlen auf die Arbeitstheke vor der Küchenzeile. Dann riss sie Parka und Autoschlüssel vom Haken nebender Tür und machte sich auf den Weg. Als sie die Treppen hinunterrannte, ertappte sie sich bei dem Wunsch, schnell zu sein. Schneller als Verhoeven. Sich einen Vorteil verschaffen. Die Erste sein. Ganz so wie früher in der Schule.
Sie startete den Wagen und hoffte inständig, dass der morgendliche Berufsverkehr inzwischen abgeebbt war. Bislang hatten sich alle Spuren, denen sie im Zuge ihrer Ermittlungen gefolgt waren, als Sackgasse erwiesen. Es gab keinerlei Hinweise darauf, dass einer der Menschen in Susanne Leistners Umfeld die grausige Tat begangen hatte. Ebenso wenig hatten sie irgendwelche Anhaltspunkte dafür gefunden, dass ein Fremder die junge Mutter über einen längeren Zeitraum hinweg verfolgt oder belästigt hatte. Sie hatten unzählige Gespräche geführt. Sie hatten überall im Wald Zettel mit dem Foto der Toten ausgehängt, auf denen eventuelle Zeugen gebeten wurden, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen. Sie hatten sämtliche Blumengeschäfte der Umgebung abgeklappert. Alles ohne jeden Erfolg.
Zu ihrer größten Freude brauchte sie weniger als eine Viertelstunde bis zum Sonnenberg. Als sie ihren Polo auf dem Parkplatz vor der Kirche abstellte, hatten sich bereits zahlreiche Schaulustige am Fuß der Alten Stiege eingefunden. Ein paar uniformierte Beamte bemühten sich, die Gaffer daran zu hindern, den Weg zu betreten.
Winnie Heller nestelte ihren Ausweis aus der Tasche ihres Parkas und erfuhr von den Kollegen, dass Verhoeven
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