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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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ihren Tod riechen. Selbst jetzt wieder. Ein alter Tod. Ein überfälliger, ganz ohne Zweifel. Trotzdem ist das Erste, was er sich fragt, als er neben dem Sofa steht und auf seine Mutter hinunter sieht, warum sie nicht einfach gegangen ist. Tausende Frauen tun das. Gehen, wenn ihnen das Leben, von dem sie denken, dass es sich ohne ihr Zutun irgendwie von selbst ergeben hat, zu viel wird. Sie packen eine Tasche mit dem Nötigsten und sind auf und davon, bevor ihre Kinder aus der Schule kommen. Aber nicht seine Mutter. Sie wählt den dramatischen Weg.
    Er tritt näher. Sie würde wollen, dass er sie ansieht. Sie hat es so eingerichtet, dass er es tun muss. Also sieht er sie an. Ihr Blut stinkt ihm entgegen. Kupfergeschmack auf seiner Zunge. Er zuckt zurück, als ihre bluttriefende Hand ihm zum Scherz über den Kopf fährt. Kein Bild, nur ein Gefühl.
    Mein Junge.
    Jetzt ist auch der Ton wieder da. Zurück in seinem Ohr. Und er wird lauter. Das tut er immer, wenn er sich an diese Stunden zu erinnern versucht. Erfolglos meist, denn der Ton hält der Erinnerung den Mund zu. Wann hat das angefangen, der Ton?, denkt er, aber er findet keine Antwort. Manchmal hat er das Gefühl, dass es enden wird, wenn er sein Ziel erreicht hat. Ist es am Ende gar diese Hoffnung, aus der heraus er sich entschlossen hat, es schließlich und endlich doch noch zu einem Ende zu bringen? Die Hoffnung, dass der Ton, der ihn quält, mit ihr sterben wird? Oder ist es doch die Hoffnung auf neue Inspiration abseits der gähnenden Leere, die ihn umgibt? Die ihn zermürbt, die in ihn hineinzukriechen und unter der er nach all diesen Jahren allmählich zu zerbrechen droht? Er weiß es nicht. Er weiß nur, dass er es satt hat, Gedichte zu fressen.
    Seine Gedanken tasten sich zur Treppe seines Elternhauses zurück, wo er sich hinsetzt und geduldig wartet, dass die Ratten auftauchen. Die, die angeblich im Keller hausen. Ihnen beim Fressen zugucken, denkt er. Vielleicht ist sie abgenagt, wenn Papa nach Hause kommt. Dann merkt er vielleicht gar nicht, dass sie . . .
    Die Zeit vergeht. Die Dunkelheit auf der Treppe vertieft sich. Aber das bemerkt er nicht. Unter seinem Hintern verliert sich die Stufe, auf der er sitzt, in einem Gefühl wattiger Schwerelosigkeit, das ist zumindest einer der Eindrücke, die von Zeit zu Zeit aus der allumfassenden Leere in seinem Inneren heraufdämmern. Ein anderer ist, dass ihm einfach nur der Arsch eingeschlafen ist. Erst als er die Stimme seines Vaters hört, weiß er wieder, wo er ist. Er will mitgehen, noch einmal hinein zu ihr , aber er darf nicht. Also wartet er. Dass er dabei auf die Treppe kotzt, merkt er nicht. Auch nicht, dass er sich beim Kotzen anfasst. Aber der Blick, mit dem sein Vater ihn bedenkt, als er wiederkommt, gefällt ihm nicht...
     
     
     
    Der Mann, der ihnen die Tür öffnete, trug ein speckiges Jeanshemd, das über dem Bauch spannte.
    »Ja?«, brummte er und schob geräuschvoll seinen Kaugummi auf die andere Seite. »Was gibt’s denn?«
    »Herr Dalm?«
    »Ja doch«, entgegnete der Hausmeister unfreundlich. »Und?«
    »Kriminalpolizei.« Verhoeven zeigte ihm seinen Ausweis. »Ich muss Sie bitten, uns Frau Reisingers Wohnung aufzuschließen. Wir haben Grund zu der Annahme, dass sie nicht aus eigener Kraft an die Tür kommen kann.«
    Der Hausmeister warf Lore Simonis einen verächtlichen Blick zu. »Sie erreichen immer, was Sie wollen, was?«, bemerkte er giftig. Dann nahm er einen dicken Schlüsselbund von der Kommode neben der Tür. »Also schön, kommen Sie«, knurrte er und schlurfte voran.
    Jeweils zwei Wohnungen lagen einander auf einer Etage gegenüber. Die von Isolde Reisinger befand sich im zweiten Stock auf der linken Seite. An der Tür hing ein Kranz aus Tannengrün und roten Schleifen, der Verhoeven daran erinnerte, dass es nur noch wenige Wochen bis Weihnachten waren.
    Nachdem er ein paar Mal vergeblich geklingelt hatte, trat er einen Schritt zurück und bedeutete dem Hausmeister, ihnen die Wohnung aufzuschließen. Dalm hantierte eine Weile reichlich umständlich mit seinen Schlüsseln, bevor sich die Tür ins Innere der Wohnung öffnete.
    »Vielen Dank«, sagte Verhoeven. »Wir geben Ihnen dann Bescheid, wenn wir hier fertig sind.«
    Mit spürbarem Widerwillen zog sich der Hausmeister in die Tiefen des Treppenhauses zurück, doch Verhoeven war überzeugt, dass er sich nicht allzu weit entfernen würde. Er hatte ein ungutes Gefühl. Aus den Augenwinkeln registrierte er, wie Winnie Heller

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