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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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ihre Dienstwaffe aus dem Halfter zog. Vorschriftsmäßig. »Frau Reisinger?«
    Wie erwartet, erhielt er keine Antwort.
    In der Wohnung war es unangenehm kühl. Kein gutes Zeichen, dachte Verhoeven. Alte Damen mochten es für gewöhnlich warm. Er blieb stehen und sah sich um. WinnieHeller hielt sich dicht hinter ihm, die Waffe im Anschlag. Er spürte ihre Anwesenheit und stellte verwundert fest, dass sie ihm ein Gefühl von Sicherheit vermittelte, das er nicht erwartet hatte. Er blieb kurz stehen und zog nun seinerseits die Dienstwaffe aus dem Halfter. Schließlich trug er die Verantwortung, und man konnte nie wissen...
    Von der Diele zweigten vier Türen ab, die alle geschlossen waren. Eine von ihnen hatte einen Einsatz aus buntem Milchglas. Verhoeven verständigte sich kurz mit seiner Kollegin, bevor er die erste Tür auf der linken Seite aufstieß. Dahinter befand sich das Schlafzimmer der alten Dame. Oder vielmehr das, was davon übrig war. Verhoeven betrachtete das Bild der Verwüstung, das sich ihm bot. Sämtliche Schränke waren geöffnet, die Schubladen herausgerissen. Kleidungsstücke und Papiere lagen überall auf dem Fußboden verstreut. Er war sich nicht sicher, was er erwartet hatte, in Isolde Reisingers Wohnung vorzufinden. Aber ein verwüstetes Schlafzimmer gehörte definitiv nicht dazu. Seine Besorgnis wuchs.
    »Das Wohnzimmer«, sagte er.
    Dieses Mal ging Winnie Heller voran.
    Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass es keinen Hinterhalt gab, sahen sie sich um. Isolde Reisinger lag bäuchlings auf dem Teppich hinter der Couch. Ihr weißes Haar war steif von geronnenem Blut. An Hinterkopf und Schläfe befanden sich zwei tiefe Wunden. Die hellbraune Strickjacke war bis zu den Schulterblättern hochgerutscht, darunter schimmerte zwischen Unterhemd und Rock ein Streifen weißer Haut hervor. Neben der Leiche lag eine Art Pflasterstein. Er war blutverschmiert.
    Winnie Heller hörte ihr eigenes Schlucken in der gespenstischen Stille, die sie einhüllte. Natürlich, sie hatte damit gerechnet. Nach allem, was Lore Simonis ihnen erzählt hatte, hatte sie tatsächlich erwartet, dass Isolde Reisinger nicht mehram Leben war. Aber so? Auf diese Weise? In den eigenen vier Wänden? Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. Irgendwie passte das nicht ins Gesamtbild. Wenn die alte Dame hatte sterben müssen, weil sie auf dem Nachhauseweg an der Alten Stiege etwas beobachtet hatte, warum hatte der Mörder sie gehen lassen? Wieso riskierte er es, einer alten Frau in ihre Wohnung zu folgen, ein Fremder, der leicht jemandem auffallen konnte? Sie sah Verhoeven an, der neben der Leiche niedergekniet war, und wünschte auf einmal brennend, sich mit ihm austauschen zu können. Zu diskutieren. Die einzelnen Möglichkeiten durchzuspielen. Das alles ergab doch einfach keinen Sinn!
    »Sie ist schon eine ganze Weile tot«, befand Verhoeven und blickte sich im Zimmer um. Auch hier sah es aus, als sei eine Bombe eingeschlagen. »Rufen Sie einen Krankenwagen und die Kollegen vom Erkennungsdienst. Und sorgen Sie dafür, dass unsere alte Dame da draußen vor der Tür irgendwohin gebracht wird, wo sie von dem hier«, er machte eine umfassende Geste, »so wenig wie möglich mitbekommt.«
    »Das wird nicht notwendig sein.« Regungslos und mit hoch erhobenem Kopf stand Lore Simonis im Türrahmen. Ihre Wangen waren von der Aufregung leicht gerötet, aber ansonsten machte sie einen absolut gefassten Eindruck. Sie starrte an den beiden Kommissaren vorbei auf die Beine ihrer toten Freundin. Kopf und Oberkörper wurden durch das Sofa verdeckt.
    »Bitte gehen Sie zurück ins Treppenhaus.« Verhoeven blickte sich Hilfe suchend nach seiner Kollegin um, doch Winnie Heller hatte sich bereits abgewandt und telefonierte. »Es wird sich gleich jemand um Sie kümmern.«
    »Er hat ihr die Strumpfhose zerrissen«, stellte Lore Simonis tonlos fest. Den Blick noch immer starr auf die Beine der Toten gerichtet, kam sie ein paar Schritte näher.
    Verhoeven stellte sich ihr in den Weg. »Frau Simonis, bitte«, sagte er. »Ich kann Ihnen nicht erlauben, dieses Zimmer zu betreten.«
    »Wie ist sie gestorben?«
    Er betrachtete das schöne Gesicht, dessen Züge bei aller Zartheit einen starken Charakter verrieten. Lore Simonis machte keineswegs den Eindruck, als ließe sie sich mit vorsichtig formulierten Halbwahrheiten abspeisen. »Soweit ich das beurteilen kann, ist sie erschlagen worden.«
    »Ich möchte sie mir ansehen.«
    »Nein«, entgegnete Verhoeven

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