Der Beutegaenger
Wahnsinn treibt.
Manchmal hat er ihn fast vergessen, bis er unvermittelt wieder mit Allgewalt über ihn hereinbricht. So wie jetzt. Vor ihm fuchtelt ein Mann, dessen Namen er bereits wieder vergessen hat, an einem Flipchart herum. Verkaufszahlen, gar nicht mal schlechte. Kein Grund zum Fuchteln. Und kein Grund, warum der Ton in seinem Kopf auf einmal anschwillt wie eine Beule. Ein Eitergeschwür. Vielleicht das Einzige, was er fürchtet. Ein Ton. Ein Geräusch. Mit Mühe widersteht er dem Impuls, sich die Ohren zuzuhalten. Nicht hier. Nicht jetzt.
Alle anderen Geräusche treten hinter ihn zurück, diesen Ton. Der Mann, dessen Namen ihm nicht mehr einfallen will, besteht nur noch aus Gesten wie die Gebärdendolmetscherin abends in der Tagesschau . Und dann wird auch der Ton, sein Ton, endlich schwächer. Er versinkt in einem Meer aus Stille. Genau wie damals, denkt er. Damals ist es auch so still gewesen. So ungewöhnlich still.
Dabei ist der Rollladen oben. Das hat er bereits gesehen, als er um die Ecke gebogen ist. Aber das Lied, das ihn für gewöhnlich empfängt, wenn seine Mutter zur Abwechslung mal Tageslicht erträgt, findet nicht statt an diesem müden Dienstagnachmittag. Manisch, denkt er, als er seinen Schlüssel ins Türschloss steckt. Maaaanisch. Mama hat heute eine ihrer maaanischen Phasen. Wörter haben Farben, und dieses ist tiefblau mit einem extrem langen »a«. Maaaanisch. In solchen Phasen singt seine Mutter. Nicht für ihn natürlich. Für sich. Alles, was sie tut, tut sie für sich. Die Welt dreht sich um einen Mittelpunkt, der tief in ihr vergraben ist. Jeder zweite ihrer Sätze beginnt mit »Ich«, die anderen mit »Mama« oder »Mein«, und das ist beides auch bloß wieder sie. Es soll nur klingen, als spräche sie über eine dritte Person, eine, mit der sie nichts zu tun hat. Aber das durchschaut er früh. Zur selben Zeit, als er beschließt, dass er anders wird, dass er sich einen Mittelpunkt außerhalb von sich selbst sucht. Einen Mittelpunkt, um den er kreisen kann.
Jemanden, der seiner würdig ist.
Nicht maaanisch.
Sondern stark.
Er lauscht wieder nach dem Gesang, der nicht stattfindet. Seine Mutter hat eine hässliche Stimme, findet er , eine, die so gar nicht zu ihrem Gesicht zu passen scheint. Eine Stimme, die schrillt. Aber das ist definitiv nicht der Ton, den er hört, ihre Stimme. Das hat er bereits analysiert. Genau wie den Rest seiner verkorksten Kindheit. Gott, wie ihn das nervt, wenn er etwas nicht erklären kann, und dieser Ton entzieht sich jeder Deutung. Er ist wie ein Nachhall von etwas, über das er sich einfach nicht klar wird.
Unter seinen Füßen knarrt die Treppe. Im Gehen überlegt er, ob er nicht besser warten soll. Manchmal denkt er, es ist besser, sich einfach auf die Stufen zu setzen. Still zu sein. Zu warten, bis seine Mutter sich beruhigt hat. Bis sie aufhört zu singen und wieder schläft. Aber an diesem Tag geht er weiter. Neugier vielleicht, weil sie nicht singt.
Sie hat ein neues Kleid, er sieht es sofort. Sie war in der Stadt, ganz allein. Eigentlich etwas, über das er sich freuen sollte. So wie sein Vater. Der wird sie loben, wenn er nach Hause kommt. Du warst in der Stadt? Das ist ja toll. Und selbst als Kind ist ihm schon klar, dass bei ihnen zu Hause mit anderen Maßstäben gemessen wird. Ein hochintelligenter Mann wie sein Vater findet es toll, wenn seine Frau es schafft, einen ganzen Tag wach zu bleiben. Und wenn sie einmal pro Jahr daran denkt, die Mülltonne rauszustellen, vielleicht sogar selbst vor die Tür geht, um sie nach vorn an die Straße zu rollen, haben sie richtig was zu feiern. Er denkt an seine eigene Frau und ihre rosa Berge, die er jetzt dauerhaft ertragen muss, weil er so verdammt unachtsam gewesen ist, und schüttelt verständnislos den Kopf. Er hat sich immer gefragt, wo sein Vater die Geduld für seine Mutter hergenommen hat. Für sie und ihre Affären. Für sie und ihre Pillen. Ihre Launen. Und wie er überhaupt an eine wie sie geraten konnte. Natürlich ist seine Mutter schön gewesen, das schon, sogar außergewöhnlich schön. Und doch will ihm ihre Schönheit allein als Erklärung nicht einleuchten.
Er nimmt eine Kopie der Flipchart-Zahlen entgegen und sieht das Bild seiner Mutter auf dem Sofa. Er hat es selbst gemalt. Sein Kunstlehrer ist sichtlich entsetzt. Aber dieses Bild, das eigene, das gemalte, ist das Einzige, was er noch hat. Was ihm geblieben ist von diesem Tag. Zumindest visuell. Dafür kann er noch immer
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