Der Bewacher - Swierczynski, D: Bewacher - Fun & Games
aber erst nach dem Patriot Act so richtig zum Einsatz gekommen war. National Security Letters waren gefährliche kleine Scheißdinger. Wurde einem so ein Schreiben zugestellt, musste man, ohne irgendwelche Fragen zu stellen, seine Akten öffnen. Ob man nun Gebrauchtwagenhändler oder Zollbeamter war – all deine Arbeitsunterlagen gehörten ihnen.
Der National Security Letter verfügte über eine hübsche Besonderheit, einen lebenslangen Maulkorberlass. Verlor man auch nur einen Ton über die Sache, konnte man im Gefängnis landen. Vor dem 11. September machte das FBI vom National Security Letter nur selten Gebrauch. Doch in dem allgemeinen Drunter und Drüber danach verteilte es sie wie Süßigkeiten an Halloween – etwa eine Viertelmillion Mal allein in drei Jahren.
Factboy hatte schnell herausgefunden, wie man die Dinger fälschte. Er wusste sogar, wie man sie per E-Mail verschickte. Keine Stimme, kein Gesicht, kein direkter persönlicher Kontakt.
So wie er auch keinen persönlichen Kontakt zu »Mann« hatte – was wie »Factboy« ein Deckname war. Sie hatten sich nie persönlich kennengelernt. Und das würden sie wohl auch nie. Aber was soll’s, solange das Geld auf seinem Konto ankam.
»Du hast gesagt, er hätte mal als Berater gearbeitet«, sagte Mann. »Berater für was?«
»Da bin ich noch dran.«
»Streng dich etwas mehr an.«
Mann legte auf. Factboy stand auf, ließ das Telefon in die Tasche seiner Cargo Shorts gleiten, betätigte mit dem Fuß den Metallgriff, um zu spülen, und öffnete die Kabinentür. In der Herrentoilette war mächtig was los. Er trat ans einzige freie Waschbecken und spritzte sich lauwarmes Wasser ins Gesicht, dann ging er nach draußen, zurück zu seiner Familie.
Sie machten gerade Urlaub.
Factboy hatte auch einen richtigen Namen, doch er hatte es sich zum Prinzip gemacht, ihn nicht zu verraten. Selbst Mann, die ungefähr siebzig Prozent seines Einkommens ausmachte, kannte seine wahre Identität nicht. Factboy gab sich als Geist im System aus, als Mann – oder Frau! –, der (oder die) irgendwo eine autonome Existenz führte, in einem Land, mit dem es kein Auslieferungsabkommen gab, als jemand, dessen Server über den ganzen Erdball verteilt waren, mit nominellem Hauptsitz in Schweden. Versuchte man, Factboy zu schnappen, war das, als wollte man eine Handvoll Rauch zu fassen kriegen – physikalisch unmöglich. Doch brauchte man umgehend irgendwelche Informationen, beschaffte Factboy sie schnell, sauber und unauffällig.
In Wirklichkeit war Factboy ein Familienvater aus den Vororten, 34, mit zwei Laptops, einem Smartphone und einer sehr, sehr guten Verschlüsselungssoftware.
Und momentan machte er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern Urlaub im Grand Canyon und war kurz davor, einen Nervenzusammenbruch zu kriegen.
Normalerweise hockte Factboy von früh bis spät in seinem Büro unter dem Dach und »programmierte«. Das war
gelogen. Er war damit beschäftigt, Informationen abzurufen und an Leute zu verkaufen, die ihm eine Menge Geld dafür zahlten. Das dauerte zwischen zehn Sekunden und ein paar Minuten, je nach Art der Informationen. Er brauchte nie – nie – länger als fünf Minuten. Die restliche Zeit schaute Factboy sich Horrorfilme aus den Achtzigern an, trieb sich in Internetforen herum oder holte sich einen runter. So ungefähr hatte sein Leben auch schon vor zwanzig Jahren ausgesehen, wenn er es sich recht überlegte. Eine Frau und zwei Kinder hatten nicht allzu viel daran geändert.
Das Problem war nur, dass Factboy für Mann mehr oder weniger rund um die Uhr erreichbar sein musste. Das Beschaffen der Informationen dauerte vielleicht zehn Sekunden, aber die Anfrage konnte um 3.13 Uhr nachts eingehen, und man erwartete von Factboy, dass er innerhalb weniger Sekunden antwortete.
Factboy musste ziemlich oft die Toilette aufsuchen.
So oft, dass seine Frau glaubte, er leide am Reizdarmsyndrom. Doch in Wirklichkeit hockte er auf dem Klodeckel und tippte etwas in die winzige Tastatur seines Telefons, bearbeitete eine Anfrage, in der Hoffnung, dass er nicht zu spät dran war.
Dann drückte er die Spülung.
Vor Kurzem hatte ihm seine Frau damit in den Ohren gelegen, mehr Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Normalerweise sagten so was Politiker oder Manager, wenn man sie in ihrem geheimen Apartment mit einem Hermaphroditen erwischt hatte, doch seine Frau meinte es ernst. Mehr Zeit. Mehr gemeinsame Zeit mit der ganzen Familie.
Sie
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