Der bewaffnete Freund
Fenster hinunter, weil ich vermute, dass frische Luft dem Freund gut tun könnte, ziehe mit der rechten Hand Hannas Decke von der Rückbank und lege sie über seinen Oberkörper.
»Ist eine Tropengeschichte. Hab’ ich regelmäßig.« Er seufzt. »So was Ähnliches wie Malaria … gibt es nur am Amazonas.«
»Und da gibt’s keine Medikamente gegen?«
Er schüttelt den Kopf. »Kann immer wieder ausbrechen.«
»Bist du sicher, dass wir nicht besser anhalten und du ein bisschen schläfst?«
Er schnauft.
Der Wagen gleitet durch die Kurven.
Es ist heiß, für Anfang Oktober überraschend heiß.
»Erzähl mir was von deiner Familie«, sagt er plötzlich.
»Meiner Familie?«
»Deiner Tochter. Du musst doch was über deine Tochter erzählen können.«
»Von Hanna?«, frage ich stumpf.
Als Zubieta untertauchte, ging ich in Deutschland noch auf die Schule. Wir hatten mit einer Lehrergeneration zu tun, die sich 1968 politisiert hatte. Wenn es ständig Konflikte mit ihnen gab, dann nicht deswegen, weil wir uns von ihren Missionierungsbemühungen belästigt gefühlt hätten. Wir waren vielmehr der Überzeugung, dass ihnen die Konsequenz abging. Sie führten ein angepasstes Leben – lästerten über die Autoritätshörigkeit der Deutschen, aber verlangten stumpfe Disziplin in den eigenen Unterrichtsstunden, schwärmten von Die Ästhetik des Widerstands, aber beteiligten sich an den polizeilichen Ermittlungen, als Unbekannte nachts ins Schulgebäude eingebrochen waren und Parolen an die Wand gesprüht hatten. Ihre ganze Art – ihr Geschmack, ihr Verhalten, ihre Liberalität – war opportunistisch. Sie riskierten nichts.
Wir hingegen wollten mehr als eine neue Partei im Bundestag, wir wollten alles. Über den verkündeten Marsch durch die Institutionen lachten wir, es war nur der Weg zum Eigenheim, Bots’ peinliches Was wollen wir trinken, sieben Tage lang? erzeugte bei uns, Anhängern der schnellen, lauten, heraus gebrüllten Musik nur Verachtung, der Aktivismus, wie wir ihn begriffen, hatte mit Menschenketten nichts zu tun. Aus diesem Grund war mir auch die Region um X längst ein Begriff, als ich Zubieta kennen lernte. Ich hatte Operation Menschenfresser gelesen und wusste, dass Zubietas Organisation den Nachfolger Francos 1973 bei einem Anschlag getötet hatte, ich kannte Fotos von dem Atomkraftwerk bei X, das nicht in Betrieb genommen, das heißt durch den Widerstand der Bevölkerung verhindert worden war, und ich hatte von dem Referendum gehört, bei dem überall in Spanien für den Beitritt des Landes zur NATO gestimmt worden war – mit Ausnahme der Region um X.
Darüber, was uns in Deutschland nicht zur Ruhe kommen ließ – die Hausbesetzungen und Anti-AKW-Demonstrationen, später die Abschaffung des Asylrechts und die brennenden Flüchtlingsheime – habe ich mit Zubieta über die Jahre immer diskutiert, und anders, als man vielleicht vermuten könnte, hatten er, Anhänger einer militanten Unabhängigkeitsbewegung, und ich, der Deutsche, dem kaum etwas so dubios erscheint wie Nationalfahnen, in diesen Fragen keine grundlegenden Meinungsverschiedenheiten. Es gab eine solide gemeinsame Grundlage: Wenige Kilometer außerhalb von X liegen die ersten systematisch aus der Luft zerstörten Städte. Sie wurden 1937 mit Beteiligung der deutschen Legion Condor in Schutt und Asche gelegt, fünf Jahre, bevor die ersten alliierten Bomber ihre Kreise am Himmel von Dresden zogen. Die Bombardierung von Kleinstädten bei X stellte den Testlauf einer neuen Luftwaffenstrategie dar, sie verfolgte keine konkreten militärischen Ziele, es ging um den kalkulierten Einsatz des Schreckens, und doch wurde den Hinterbliebenen nie eine Entschädigung gezahlt. Deutschland erinnerte sich anders an die Legion Condor. Die große Charterfluglinie, die nach dem Krieg Touristen in Urlaubsorte verfrachtete, trug ihren Namen.
Zubieta hat oft über die Bombardierung und über das Gemälde Picassos gesprochen. Dass er die Bombardierung als Teil eines »Genozids«, einer »gezielten Auslöschung eines Volkes« sah, fand ich absurd, propagandistisch. Und doch habe ich für den Freund – anders als für meine von Peter Weiss schwärmenden Lehrer in Deutschland – immer Respekt gehabt. Er riskierte etwas, wählte nie den Weg des geringsten Widerstands, lehnte sich selbst in den alltäglichsten Situationen gegen die Verhältnisse auf.
Ich suche nach der idealen, geraden Fahrlinie, vermeide abrupte Bremsmanöver, überhole nicht. Trotzdem
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