Der Bilderwächter (German Edition)
eingeredet, und nun hielt sie ihr Handy in der Hand.
» Ist es für die alten Damen nicht schon viel zu spät?« Sie zögerte immer noch. » Die gehen früh schlafen.«
Ich sah auf meine Uhr. » Zwanzig Uhr fünfunddreißig. Das geht gerade noch. Außerdem haben wir keine Alternative.«
» Außer hinzufahren«, sagte Mike. » Mit den beiden Pressefutzis da draußen im Schlepptau.«
Merle ergab sich in ihr Schicksal.
» Guten Abend, Emilia. Ich bin’s, Merle. Entschuldigen Sie, dass ich so spät noch störe. Hab ich Sie geweckt? Nein? Das ist gut.«
Sie wirkte erleichtert, was ich gut verstehen konnte. Die Schwestern reagierten nicht gerade zimperlich, wenn man sie verärgerte. Vor allem Hortense konnte Gift und Galle spucken.
» Ich habe nur eine Frage: Ilka hatte eine Verabredung mit dem Nachlassverwalter … Ja, genau, in Rubens Haus …«
Sie hörte zu, ungeduldig. Ich kannte meine Freundin gut genug, um zu wissen, dass sie bereits bereute, angerufen zu haben.
» Richtig.«
Merle nickte, als könnte Emilia das sehen. Mike hatte es auch bemerkt und griente. Ganz schwach hörte ich die Stimme der alten Dame aus dem Handy dringen. Merle warf uns gereizte Blicke zu.
» Ich wollte nur fragen, ob Ilka noch bei ihm ist … Sie haben sie nicht gesehen? Und Ihre Schwester? Auch nicht? Okay.«
Merle schien mit ihrem Latein am Ende. Sie hörte nun Emilia wieder zu, die ihr wer weiß was erzählte.
» Würden Sie … oh, das wäre sehr nett, Emilia. Sie hat Jettes Wagen genommen. Ja. Ich warte.«
Wir starrten Merle fragend an, doch sie reagierte nicht darauf. Sie saß im Schneidersitz neben Claudio auf dem Sofa. Claudio rutschte ein Stück näher und versuchte zu lauschen, doch sie wehrte ihn ab und wechselte das Handy in die andere Hand.
» Ja? Dann ist es gut. Vielen Dank für die Mühe, Emilia. Und entschuldigen Sie bitte noch mal die Störung.«
» Was hat sie gesagt?«, fragte Mike. » Nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.«
» Sie hat nichts von Ilkas Besuch mitgekriegt, hat aber aus dem Fenster geguckt und Jettes Wagen nicht mehr vorm Tor gesehen. Also muss Ilka unterwegs sein.«
» Aber sie weiß nicht, wann sie abgefahren ist?«
» Nein.«
» Bestimmt kommt sie gleich«, sagte Claudio, der heute etwas ungewohnt Fürsorgliches an sich hatte. » Vielleicht macht sie noch Besorgungen.«
» Um diese Zeit?« Merle legte ihr Handy auf den Tisch. » Sie will höchstens noch ein bisschen allein sein, um nachzudenken.«
» Wie du«, sagte Claudio zärtlich. » Meine denkende Schöne.«
Ich ging zur Haustür, machte sie einen Spaltbreit auf und spähte hinaus. Die beiden Reporter hatten früher aufgegeben, als ich geglaubt hatte. Kein fremder Wagen war zu sehen.
Meiner jedoch leider auch nicht.
Leise schloss ich die Tür. Ich hatte kein gutes Gefühl.
*
Marten drückte auf den Türsummer. Sein Herz flatterte, als er die leichten Schritte auf der Treppe hörte.
Die Luft wisperte ihren Namen.
Ilka – Ilka – Ilka – Ilka …
Schon einmal war sie überraschend bei ihm aufgetaucht. Ein einziges Mal.
War das wirklich erst vorgestern gewesen?
Sie hatte jemanden gebraucht und hatte ihn gewählt.
Es war so unglaublich schön gewesen, sie bei sich zu haben. Allein ihre Gegenwart bedeutete pures Glück. Seitdem war er auf Entzug.
Er trat ans Geländer, um hinunterzusehen, musste sich zusammenreißen, um ihr nicht entgegenzulaufen.
» Hallo!«, rief er, sehr darum bemüht, dass es nicht zu zärtlich klang.
» Hi!«
Es war Susans Stimme, die ihm antwortete, atemlos und verliebt. Es war Susan, die zu ihm hoch blickte. Es waren ihre Schritte, die er gehört hatte.
Die Enttäuschung brach wie eine Welle über ihm zusammen und begrub ihn unter sich.
Nur Susan.
*
Undeutlich drangen die Straßengeräusche an Ilkas Ohr. Es waren nicht mehr so viele Menschen unterwegs. Hinter den Fenstern brannte Licht. Hin und wieder hupte ein nervöser Autofahrer, ertönte eine Fahrradklingel, rief jemand etwas.
Das alles berührte Ilka nicht. Sie hatte sich von dem Draußen abgekapselt, saß hier in Jettes Peugeot und wünschte sich sehnlichst, die vergangenen Minuten hätten nicht stattgefunden.
Wie gern wäre sie nach Hause gefahren und hätte Mike in die Arme genommen. Einfach so.
Als wär nichts geschehen.
Sie sah Thorsten fallen. Erinnerte sich an die schreckliche Stille nach seinem erstickten Schrei.
Am Fenster angelangt, hatte sie sich umgedreht.
Und wenn er nur vorgab, verletzt zu
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