Der Bilderwächter (German Edition)
einbringen.«
Sie winkte ab, und er fragte sich, was, zum Henker, mit diesem Mädchen schiefgelaufen war, dass Geld sie nicht interessierte.
» Was willst du denn noch?«, fragte sie.
Er goss sich Wasser ein und hob die Flasche hoch. » Du auch?«
Sie schüttelte den Kopf, also schraubte er die Flasche wieder zu. Das Wasser kühlte seine Kehle und gab ihm das Gefühl, wieder klar denken zu können.
» Ich will alles«, sagte er, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass es genau das war. Schluss mit der kleinlichen Erbsenzählerei, die die Leute Leben nannten. Er hatte keine Lust mehr, sich zu bescheiden, immer nur die andern auf dem Weg nach oben zu beobachten und selbst wie gelähmt am Fuß der Leiter stehen zu bleiben.
Er wollte alles.
Jetzt.
» Alles«, wiederholte er. » Und du wirst mich nicht daran hindern.«
*
Es hatte keinen Sinn. Wie hatte sie hoffen können, es wäre möglich, sich mit ihm zu einigen? Er war größenwahnsinnig, und nichts, was sie sagte oder tat, würde ihn von seinem Vorhaben abbringen.
Auf einmal fühlte sie sich erschöpft wie lange nicht mehr. Langsam erhob sie sich von ihrem Stuhl.
» Bleib sitzen!«
Sie schob den Stuhl zurück und sah auf Thorsten nieder. Jetzt keine Angst zeigen, dachte sie und hängte sich ihre Tasche über die Schulter.
» Setz dich!«
Sie drehte sich um und trat in die Mitte des Raums. Von dort aus schaute sie ihn an. Er bebte vor Wut.
» Du wirst die Verträge unterschreiben«, sagte er, seine Stimme mit einem Mal gefährlich leise. » Außerdem brauche ich ein paar Vollmachten.«
» Ich werde jetzt meine Jacke anziehen und nach Hause fahren.«
Er stand auf, ging langsam zur Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.
» Du verzogene, privilegierte, dumme kleine Göre!« Er spuckte ihr jedes einzelne Wort vor die Füße. » Über andere Menschen hast du dir noch nie den Kopf zerbrochen, stimmt’s? Aber heute wirst du es lernen.«
Ilka zog ihr Handy aus der Tasche.
» Lass das!«
Mit wenigen langen Schritten war er bei ihr und riss ihr das Handy aus der Hand. Er warf es auf den Tisch, wo es sanft auf Rubens Zeichnungen landete. Ilka stieß ihn weg und rannte zur Tür. Bevor sie die Klinke herunterdrücken konnte, fühlte sie seine Hand auf der Schulter.
Sie schrie und er hielt ihr den Mund zu. Mit dem freien Arm umklammerte er sie so fest, dass sie sich nicht mehr regen konnte. Sie spürte seinen Atem im Nacken.
» Ich habe nachgedacht«, sagte er, als sie allmählich die Kraft verlor, sich zu wehren. » Über Ruben, über dich … und über das große Geheimnis, das der hochgelobte Künstler seinen Bewunderern aufgegeben hat.«
Ilka hatte das Gefühl zu ersticken. Thorstens Hand bedeckte nicht nur ihren Mund, sondern auch ihre Nase. So langsam wie möglich sog sie das bisschen Luft ein, das er ihr ließ, und atmete ebenso langsam wieder aus.
Thorsten schien ihre Not nicht zu bemerken. Allerdings lockerte er seinen Griff ein wenig, jetzt, da sie nicht mehr versuchte, sich zu befreien.
» Und was ist das große Geheimnis? Na? Du weißt es doch. Ach, entschuldige. Du kannst mir ja nicht antworten, solange ich dir den Mund zuhalte.«
Er nahm die Hand weg und Ilka rang verzweifelt nach Luft. Thorsten ließ sie los. Er schob sich zwischen sie und die Tür. Musterte sie mit schmalen Augen.
Ilka konnte sich nicht regen. Ihr Körper ließ sie im Stich. Sie konnte nur dastehen und Thorsten anstarren.
Erst jetzt wurde ihr der Sinn seiner Worte bewusst.
Das Geheimnis?
Es gab nur ein einziges Geheimnis in Rubens Bildern.
» Bitte, Thorsten! Lass mich gehen.«
» Du bist das Geheimnis. Du.«
Er kam näher. Seine Hand hob ihr Kinn an. Er sah ihr in die Augen.
» Die einzige, die wahre Liebe seines Lebens, von der er immer gesprochen hat. Alle andern sind nur Ablenkung, hat er gesagt. Damit ich den Schmerz nicht so spüre. Und ich hab nicht geahnt, dass er von dir spricht. Wie hätte ich auch darauf kommen sollen?«
Ilka konnte ihren Herzschlag hören.
Eine Welle von Schwäche lief durch ihren Körper.
Thorsten hob die Hand, und Ilka wich zurück. Da lachte er und ließ die Hand wieder sinken.
Er demonstrierte ihr seine Macht.
Und ihre Ohnmacht.
» Wie hätte irgend wer darauf kommen sollen? Ihr wart doch Geschwister!«
Die Scham trieb Ilka Tränen in die Augen.
» Nicht«, flüsterte sie. » Bitte … nicht …«
» Nachdem ich das erkannt hatte, begriff ich dein Verhalten.«
» Bitte …«
» Ich verstand aber auch, dass euer
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