Der Bilderwächter (German Edition)
sein? Wenn er bloß darauf wartete, dass sie sich über ihn beugte, um ihren Arm zu packen und sie zu sich herunterzuziehen?
Sie konnte ihn schon hämisch lachen hören.
Das Fenster hatte keinen Griff.
Verzweifelt tastete Ilka den glatten Rahmen ab, suchte nach einem Knopf, einem Schalter, was auch immer.
Verlier nicht die Nerven. Reiß dich zusammen! Denk nach!
Doch da war nichts. Auch an den anderen Fenstern nicht.
Der einzige Weg hinaus führte durch die Tür.
Sie brauchte den Schlüssel.
Hielt Thorsten ihn immer noch in der Hand?
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Sie musste nachsehen.
Aber die Beine versagten ihr den Dienst. Sie wollten sich einfach nicht bewegen. Ilkas Gehirn konnte ihnen noch so oft den Befehl dazu erteilen – sie gehorchten nicht.
War das, was sie da hörte, ein Stöhnen?
Hatte Thorsten sich gerührt?
Heb den rechten Fuß. Setz ihn auf den Boden auf. Verlagere dein Gewicht. Heb jetzt den linken Fuß. Gut so. Und weiter. Rechter Fuß. Achte nicht auf das Zittern. Denk gar nicht daran. Linker Fuß. Sehr gut. Und noch mal von vorn.
Es war, als müsse sie nach einem schweren Unfall das Laufen wieder lernen. Sie schwitzte vor Anstrengung und das Zittern erfasste ihren ganzen Körper.
Du hast nur die eine Chance. Vermassle sie nicht. Rechter Fuß. Linker. Bald hast du’s geschafft.
Es kostete sie eine ungeheure Überwindung, neben Thorsten in die Hocke zu gehen, um nach dem Schlüssel zu suchen. Ruhig zu bleiben und der Panik nicht nachzugeben, die bloß darauf wartete, sie aus dem Hinterhalt anzuspringen.
Oh Gott! Seine Hände waren leer.
Und nirgends war ein Schlüssel zu sehen.
Wieder hörte sie ein Stöhnen, und jetzt war sie sich sicher, dass es aus Thorstens Mund gekommen war. Die Hände reglos in der Luft, ließ sie kostbare Sekunden verstreichen.
Du musst den Schlüssel finden, bevor er wieder zu sich kommt. Du musst!
Sie hielt den Atem an und beugte sich tiefer über ihn, suchte mit ängstlichen Blicken seine Kleidung ab und den Boden, fühlte, wie ihr ein Schluchzen in die Kehle stieg und schluckte es rasch hinunter.
Wieder wurde sie sich der absoluten Stille bewusst.
Beeil dich!
Irgendwie fand sie die Kraft, Thorsten zu berühren und wurde endlich belohnt, als sie es in einer Ärmelfalte silbern blitzen sah.
Behutsam und mit spitzen Fingern zog sie den Schlüssel hervor und stand langsam auf. Ihr Instinkt wollte sie zur Tür stürzen lassen, doch sie bückte sich nach ihrer Tasche und ging dann auf Zehenspitzen, einen Schritt nach dem andern, langsam und sehr bewusst.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn.
Die Tür ging auf.
Ilkas Erstarrung löste sich, und sie rannte zu Jettes Wagen, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen.
*
Mike versuchte, seine Unruhe vor uns zu verbergen, doch es gelang ihm nicht. Immer wieder sprang er auf und lief zum Fenster, um nach Ilka Ausschau zu halten.
» Jetzt bleib endlich sitzen«, sagte Merle entnervt. » Ich würd gern ein bisschen was von dem Film mitkriegen. Ilka ist erwachsen. Sie kann prima auf sich aufpassen.«
Das war, wie wir alle nur zu gut wussten, keine Garantie. Als sei ihr das gerade selbst eingefallen, wandte Merle sich verlegen wieder dem Fernseher zu.
» Was soll ihr schon passieren«, sagte ich. » Thorsten hat jeden erdenklichen Grund, sie mit Samthandschuhen anzufassen, damit sie seine hochfliegenden Pläne unterstützt und außerdem …«
» Der Kerl soll sich hüten, sie auch nur andeutungsweise zu berühren«, unterbrach Mike mich. » Sonst findet er sich in der Ambulanz wieder.«
» Gut gebrüllt, Löwe«, murmelte Merle, denn Mike musste sich schon überwinden, um eine Mücke totzuschlagen. Er war der geborene Spinnenretter und Frauenversteher, und ein Katzenflüsterer und Weltverbesserer war er auch.
» Ich schwör’s euch: Krümmt er Ilka auch nur ein Haar, dann ist er dran.«
Der Film konnte mich heute nicht packen. Ilka war jetzt etwa drei Stunden weg. War das ein realistischer Zeitrahmen für eine Unterhaltung?
Wenn es gut lief – ja. Wenn sie konkrete Pläne besprachen – erst recht.
Und wenn es nicht gut gelaufen war?
Dann würde Ilka tatsächlich eine Weile allein sein wollen, um nachzudenken, das hatte Merle ganz richtig eingeschätzt. Man konnte hinter jeder Ecke Gespenster sehen und sich um alles und jedes Sorgen machen.
Ich rutschte tiefer ins Sofa und legte die Füße auf den Tisch, entschlossen, nie im Leben eine Glucke wie meine Mutter
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