Der Bilderwächter (German Edition)
leicht.
Danach hatte er keine Lust mehr gehabt, ins Fitnessstudio zu gehen. Er musste Ilka sehen, unbedingt. Selbst wenn Mike bei ihr war – er wollte ihre Stimme hören, bei ihr sein, und sei es nur für zehn Minuten.
Er ging zu Fuß. Durch den frischen Schnee, der trocken unter seinen Schritten knarrte. Durch das Wirbeln der weißen Flocken und die wundervolle Stille, die mit ihnen auf die Stadt gesunken war.
Es dämmerte schon. Bald würden die Schneekristalle im Licht der Straßenlaternen glitzern, als hätte jemand winzige Diamanten verstreut.
In der Dämmerung wurde der Schnee blau. Nie war der Mond, der fast rund am Himmel stand, so fern und so kalt wie zu dieser Stunde. Und nie fühlte man sich so klein und so allein.
Bevor dieses Gefühl ihn überwältigen konnte, drückte Marten auf den Klingelknopf und war erleichtert, als das Summen des Türöffners ertönte.
Ilka wirkte so verletzlich, wie sie dastand und ihm entgegensah. Ihr Gesicht war blass und ihre Augen waren gerötet. Als hätte sie geweint.
Was hatte dieser brutale Kerl ihr angetan? Wie konnte er sie zum Weinen bringen?
» Komm rein«, sagte Ilka und hielt Marten die Tür auf.
Er war schon ein paar Mal in ihrem Zimmer gewesen und hatte sich jeden einzelnen Gegenstand darin eingeprägt. Er hatte das Zimmer auch schon gemalt.
Und Ilka selbstverständlich.
Aber sie wusste nichts davon und sollte es auch nicht erfahren.
Wo war Mike?
Ilka ließ sich auf einen Sessel fallen und deutete auf das Sofa. Er folgte ihrer Einladung und setzte sich.
» Schön, dass du hier bist«, sagte sie. » Ich kann jetzt nicht gut allein sein.«
Hatten sie gestritten? Sich vielleicht sogar getrennt?
Martens Herz klopfte vor Aufregung so rasend und heftig, dass er nach Luft schnappen musste. Wenn sie sich getrennt hatten …
Sie saßen in dem dämmrigen Zimmer, ohne zu reden. Sahen der Dunkelheit zu, wie sie in die Winkel sickerte und die Möbel verschwinden ließ. Ilkas Gesicht war schließlich nur noch ein heller Fleck, doch Marten kannte es so gut, dass er es blind vor sich sah.
Er zwang sich, sitzen zu bleiben und nicht dem Drang nachzugeben, Ilka zu berühren oder die Stille mit Worten zu zerstören. Er verzehrte sich danach, seine Finger in ihrem Haar zu vergraben, ihre Wangen mit Küssen zu bedecken. Ihre Lippen. Ihren Hals.
Sie zu lieben, zu lieben und zu lieben.
Doch er musste sich gedulden.
Noch war seine Zeit nicht gekommen.
Noch nicht.
*
Nachdem Marten wieder gegangen war, rief Ilka Tante Marei an.
» Das ist Gedankenübertragung«, meldete Tante Marei sich erfreut. » Gerade war ich auf dem Weg zum Telefon. Wir haben so lange nichts von dir gehört, Kind.«
Nach dem Tod des Vaters und der Heimeinweisung der Mutter hatte Ilka gut drei Jahre bei ihrer Tante und ihrem Onkel verbracht. Es war Tante Marei schwergefallen, sie danach wieder gehen zu lassen, damit sie ihr eigenes Leben mit Mike und den andern führen konnte.
» Was machen die Zwillinge?« fragte Ilka. » Und Onkel Knut?«
» Die Zwillinge futtern wie die Scheunendrescher und sind trotzdem dünn wie Bohnenstangen. Anders als ihr Vater, der ganz schön an Gewicht zulegt. Aber deswegen rufst du nicht an, nicht wahr?«
Tante Marei hatte ein Gespür für Stimmungen. Sie hörte einem auch am Telefon an, wenn etwas nicht in Ordnung war.
» Ich habe Post bekommen«, sagte Ilka.
Tante Marei schwieg. Das war ein weiterer ihrer Vorzüge. Sie konnte zuhören und musste sich nicht ständig selbst ins Gespräch bringen.
» Es geht um Rubens Bilder«, erklärte Ilka. » Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
» Hat sich dieser Thorsten Uhland bei dir gemeldet?«, fragte Tante Marei.
» Ja. Er will sich mit mir treffen.« Von Rubens Brief erwähnte Ilka nichts. Seine Existenz hatte sie so sehr erschreckt, dass sie nicht mal darüber reden mochte. » Ich weiß nicht, was ich tun soll«, wiederholte sie.
» Möchtest du, dass ich dich begleite?«
Was würde das ändern? Es war ja nicht so, dass Ilka Angst hatte, Thorsten zu begegnen. Sie hatte Angst davor, Rubens Bildern gegenüberzutreten. Und eine Entscheidung fällen zu müssen.
» Lieb von dir, Tante Marei, aber das ist nicht nötig. Ich … eigentlich weiß ich überhaupt nicht, warum ich dich angerufen habe.«
» Brauchst du meinen Rat? Oder den deines Onkels?«
Ilka hatte nach Rubens Tod die Möglichkeit gehabt, das Erbe auszuschlagen, doch Onkel Knut hatte sie davor gewarnt. » Die Unterbringung deiner Mutter ist sehr
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