Der Bilderwächter (German Edition)
zu nah an sich heranzulassen.
» Hallo, Schätzchen! Machst du mir auf?«
Selbst das Gittertor trug eine Haube aus Schnee. Es war geschlossen, und Merle stellte den Schneeschieber weg, um Jette zu öffnen.
» Hier.« Jette hielt ihr eine Tüte vom Bäcker entgegen. » Ich dachte, ein paar Kalorien könnten uns guttun.« Sie drückte das Tor wieder zu. » Ist Mike noch nicht da?«
In diesem Moment hörten sie ein Motorengeräusch und sahen Mikes Kangoo um die Ecke biegen.
» Perfektes Timing«, sagte Merle voller Erleichterung und winkte Mike zu.
» Allmählich bist du …«
» … wie deine Mutter, ich weiß«, beendete Merle Jettes Satz. » Ich kann es nicht ändern. Ich hab euch einfach alle gern gesund und munter um mich herum.«
Wenig später saßen sie in der Enge und dem Chaos ihres Büros, aßen Käsekuchen von Tellern, die nicht zusammenpassten, tranken Tee aus Tassen mit abgestoßenem Rand, und Mike erzählte von dem Treffen mit Ilka.
Dann saß er niedergeschlagen da und knetete seine Hände.
» Nimm dir das nicht so zu Herzen«, versuchte Jette ihn zu trösten.
» Ruben hat sie entführt und eingesperrt«, erinnerte Merle ihn und spürte Gänsehaut auf den Armen. » Er hat sie seelisch misshandelt, auf die grauenvollste Weise.«
» Ich weiß«, flüsterte Mike.
» Und jetzt ist es, als wäre Ruben von den Toten auferstanden.« Jette berührte sanft Mikes Arm. » Er ist wieder in ihr Leben getreten, Mike. Ist es da nicht verständlich, dass sie in die Vergangenheit zurückkatapultiert wird?«
Mike nickte. In seinem Gesicht zuckte ein Nerv.
» Aber sollte sie diesen Brief wirklich lesen?«, fragte Merle zweifelnd. » Wer weiß, was er anrichten wird. Vielleicht … vielleicht holt Ruben darin zum letzten Schlag aus.«
» Sie darf ihn nicht lesen«, antwortete Mike tonlos. » Es ging ihr doch schon so viel besser. Sie hatte weniger Albträume und konnte wieder lachen. Ich …« Er schluckte hart. » Ich durfte sie lieben … ohne dass sie in Tränen ausbrach, sich von mir wegdrehte … oder schreiend davonlief.«
» Ihr werdet sie nicht daran hindern können«, sagte Jette. » Und ich glaube, es ist wichtig, dass sie ihn liest. Sie wird sich sonst ein Leben lang vorwerfen, es nicht getan zu haben.«
» Oder ein Leben lang unter dem leiden, was Ruben ihr darin geschrieben hat.« Merle war sich nicht sicher, wer von ihnen recht hatte. » Aber es ist Ilka, die entscheiden muss«, schloss sie. » Wir sollten sie nicht beeinflussen. Wir sollten einfach da sein, wenn sie uns braucht.«
Eine Weile schwiegen sie und beobachteten Dagobert, der gutmütig angetrottet kam und die lange Schnauze vertrauensvoll auf Mikes Oberschenkel legte. Er war noch nicht lange im Tierheim und durfte sich frei überall bewegen, weil er es nicht ertrug, eingeschlossen zu sein.
Dagobert war eine Seele von Hund. Er hatte die Körperform eines Schäferhunds, den Kopf eines Irischen Terriers und die Beine eines Dackels, liebte jeden Menschen und jedes Tier und spürte sofort, wenn es jemandem nicht gut ging.
So einen Hund, dachte Merle oft, bräuchte jeder einsame Mensch. Dann würde niemand mehr tagelang tot in seiner Wohnung liegen, weil keiner sein Fehlen bemerkte.
Mike kraulte Dagobert hinter den Ohren. Dagobert seufzte tief und schaute Mike unverwandt in die Augen. Merle kannte diesen Blick. Man verlor sich in den schimmernden Hundeaugen und fühlte sich auf eine unbegreifliche Weise verstanden.
Auch Mike schien das zu empfinden.
Das Problem allerdings war noch lange nicht gelöst.
*
Marten hatte schließlich doch auf den Besuch des Fitnessstudios verzichtet. Das Gespräch mit Professor Kokar war verdammt ernst gewesen. Wenn er sich nicht am Riemen riss, würde er die Unterstützung seines Lehrers verlieren. Das hatte unausgesprochen in den Worten mitgeschwungen.
Und was würde dann aus seinem Projekt? Es war ja nur im regen Austausch zwischen ihnen beiden zustande gekommen.
Eine Serie von praktischen Arbeiten, die in Anlehnung an das Werk Ruben Helmbachs entstehen sollten. Verbunden mit einem Essay über den Maler, der möglicherweise in einer wissenschaftlichen Reihe, die der Professor betreute, als Buch erscheinen würde. Einer kunsttheoretischen Auseinandersetzung, die Marten völlig anders aufziehen wollte als alles, was es sonst so in dieser Richtung gab.
Ein Wahnsinnsunterfangen.
Während des Seminars hatte Marten sich zwingen müssen, den Gesprächen zu folgen. Am Riemen reißen. Das sagte sich so
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