Der Bilderwächter (German Edition)
den einen oder anderen Gegenstand erahnen konnte.
Sie und ich, dachte Marten. So werde ich es nennen.
Sie und ich.
Sein Blick wanderte zu den aufgeklappten Büchern und den verstreuten Notizen auf seinem Schreibtisch. Was würde passieren, wenn Ilka erfuhr, dass er an einer Arbeit über Ruben Helmbach schrieb? Und an einem praktischen Projekt arbeitete, in dem es wiederum hauptsächlich um die Werke ihres Bruders ging?
Er hatte von den Gerüchten gehört, die an der Akademie kursierten. Falls nur die Hälfte von ihnen stimmte, dann hatte Ilka eine Tapferkeitsmedaille verdient.
Der eigene Bruder hatte sie entführt und misshandelt.
Sie wie eine Gefangene gehalten.
Marten hatte sich mit Ruben Helmbachs Malerei bereits auseinandergesetzt, bevor er Ilka begegnet war. Er hatte auch das Projekt schon vorher entworfen.
Doch das würde, das konnte Ilka ihm gar nicht glauben.
Sie würde annehmen, dass er versuchte, über sie an Informationen zu gelangen, die er in den zugänglichen Quellen nicht finden konnte. Würde sicher sein, dass er sie ausnutzen wollte, um die Aufmerksamkeit der Medien zu erlangen und mit einem Paukenschlag bekannt zu werden.
Endlich war er dem Mädchen begegnet, nach dem er immer gesucht hatte, und dann war sie unerreichbar für ihn.
Selbst wenn es ihm gelänge, Mike auszuhebeln, wäre da noch immer das Geheimnis seines Projekts, das ihm das Genick brechen würde.
Du hättest dir ein anderes Thema suchen können, dachte er. Die Arbeit über einen anderen Maler schreiben. Das wäre möglich gewesen.
Doch er hatte es nicht fertiggebracht.
Obwohl er wusste, was Ruben Helmbach Ilka angetan hatte, obwohl er ahnte, dass sie Schlimmeres durchgemacht haben musste, als er sich vorstellen konnte, obwohl er spürte, dass da mehr gewesen sein musste als das, was an die Öffentlichkeit gedrungen war – er hatte nichts gegen die überwältigende Faszination tun können, die Ruben Helmbach mit seiner Kunst auf ihn ausübte.
Konnte es noch immer nicht.
» Verzeih mir, Ilka«, flüsterte er. » Bitte verzeih mir, wenn du kannst.«
Ilka hatte das Treffen mit Thorsten Uhland um einige Tage hinausgezögert, doch nun war der Montag da, und sie konnte nicht länger davonlaufen. Ein paar Mal hatte sie mit Mike telefoniert, auch mit Jette und Merle. Sie waren sehr behutsam mit ihr umgegangen, und obwohl sie das einerseits rührte, machte es sie andrerseits zornig.
Wann würde sie endlich wie alle andern sein?
Sie war übers Wochenende in Düsseldorf geblieben, um nachzudenken. Es hatte sie aber nicht weitergebracht.
Am Sonntag hatte sie Mina angerufen. Mina hatte ihr von ihren Fortschritten erzählt und von dem Leben in der kleinen Therapie- WG nahe der Klinik, zu der neben ihr noch vier weitere junge Patienten gehörten.
Unter anderm einer, der ihr sehr gefiel.
» Sein Name ist Raoul«, hatte Mina mit einem Lächeln in der Stimme gesagt. » Aber nicht nur. Er ist nämlich multipel, genau wie ich. Wenn wir zusammen sind, platzt das Zimmer echt aus allen Nähten.«
Seit Längerem schon konnte sie mit einer lockeren Selbstironie über ihre psychische Störung reden. Ilka beneidete sie darum. Ihre eigene Therapie bei Lara ging so mühsam voran, dass sie manchmal fast den Mut verlor.
Erst spät am Sonntagabend hatte sie sich entschieden, Jette zu bitten, ob sie sie begleiten würde. Jette hatte sofort zugesagt.
Am Kölner Hauptbahnhof stieg Ilka aus dem Intercity und zog fröstelnd die Schultern zusammen. Die heisere Stimme einer Frau informierte in leierndem Tonfall über die Anschlussmöglichkeiten. Auf dem Nebengleis startete ein ICE , durch dessen dunkel getönte Fensterscheiben man kaum ins Innere sehen konnte.
Suchend schaute Ilka sich um und entdeckte Jette in der Nähe johlender Fußballfans, deren Trikots sie keinem Verein zuordnen konnte. Jette winkte. Sie wirkte so entspannt, dass Ilka sich augenblicklich beruhigte.
Sie umarmten sich und hielten einander ein wenig länger fest, als es bei ihren Begrüßungen sonst üblich war.
» Aufgeregt?«, fragte Jette und sah Ilka aufmerksam ins Gesicht.
Ilka nickte. Obwohl aufgeregt maßlos untertrieben war.
Am Kiosk überreichte ein Nikolaus jeder von ihnen ein kleines Schokoladenherz.
» Sechster Dezember«, sagte Jette. » Daran hab ich überhaupt nicht gedacht.«
Auch Ilka hatte es vergessen. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, heute ihre Mutter zu besuchen und ihr ein Nikolausgeschenk zu bringen. Mit Thorsten Uhlands Brief war alles
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