Der Bilderwächter (German Edition)
kostspielig«, hatte er gesagt. » Es wäre unverantwortlich, auf Rubens Vermögen zu verzichten.«
Onkel Knut hatte nach dem verhängnisvollen Unfall der Eltern alles für Ilka geregelt. Er hatte ihr Elternhaus verkauft, Ruben ausgezahlt und den Rest sicher angelegt. Ilkas Vater war vermögend gewesen, hatte jedoch durch riskante Geldanlagen viel verloren. Und niemand wusste, wie lange das Heim noch bezahlt werden musste, wie lange Ilkas Mutter in diesem Zustand bleiben würde.
Auch nach Rubens Tod hatte Ilka auf Onkel Knut vertraut und alles in seine Hände gelegt. Noch hatte er Rubens Häuser nicht zum Kauf angeboten, sie auch nicht vermietet. Er hatte sie auf Ilkas Wunsch hin abgeschlossen und nichts darin angerührt.
Es war zu früh für die Erinnerungen, die in Ilkas Innerem nur darauf lauerten, hervorzukommen und sie zu überwältigen.
Zu früh.
Viel zu früh.
Rubens Vermögen hatte Onkel Knut ebenso angelegt wie das Geld der Eltern. Vielleicht würde Ilka damit später einmal wohltätige Organisationen und Projekte unterstützen, aber jetzt war noch nicht die Zeit, sich damit auseinanderzusetzen.
» Ilka? Alles in Ordnung mit dir?«
Tante Marei war wieder so besorgt. Sie konnte die Vergangenheit nicht ändern, doch wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie es getan, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
» Alles okay. Ich …« Jetzt nicht heulen. Tante Marei nicht erschrecken. » Ich wollte nur kurz deine Stimme hören …«
» Soll ich mich ins Auto setzen und …«
» Nein. Mach dir keine Sorgen, Tante Marei. Du weißt doch: Unkraut vergeht nicht.« Ilka probierte ein Lachen, und es funktionierte. Tante Marei fiel darauf herein. Ilka hörte sie erleichtert seufzen, bevor sie ebenfalls leise lachte.
» Willst du am Wochenende zum Essen kommen?«, fragte Tante Marei. » Wir würden uns riesig freuen, dich mal wieder bei uns zu haben, so wie früher.«
Wie früher, dachte Ilka, und überlegte, wie viele Früher es doch für sie gab. Ihre Kindheit. Die heimliche Liebesbeziehung zu Ruben. Die Jahre bei Tante Marei. Das Leben in der besten WG der Welt.
Und die Tage ihrer Gefangenschaft in dem Haus, das Ruben eigens zu diesem Zweck gekauft und umgebaut hatte.
Das schreckliche Früher, das sie aus ihrer mühsam wiedergefundenen Sicherheit gerissen und beinah getötet hatte.
» Ich besuche euch bald wieder«, versprach sie und spürte eine zärtliche Wärme für ihre Tante, die für sie da war, wie es einmal Ilkas Mutter gewesen war. » Grüß alle von mir.«
» Mach ich«, sagte Tante Marei, und Ilka konnte in ihrer Stimme wieder Besorgnis hören.
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, stellte sie sich ans Fenster und schaute hinaus in die Dunkelheit. Schneeflocken stoben um die Laternen. Der Hofgarten hatte sich in ein Wintermärchen verwandelt. Noch trugen die Bäume ihre weiße Last, ohne sich unter ihr beugen zu müssen. Der Schnee auf der Fensterbank kroch wie kalter Wüstensand an den schwarzen Fensterscheiben hoch, bildete sanfte Hügel und Täler.
All das war so schön, dass Ilka es kaum aushielt.
Mike, dachte sie. Komm zurück.
Doch sie war froh, dass er ihre Gedanken nicht lesen konnte.
Keine Nähe jetzt.
Keine Berührung.
Keinen Schmerz.
Nichts als die Einsamkeit in ihrem Zimmer und die weiße Stille draußen vor den Fenstern.
*
Wie sehr du mir fehlst, schrieb Hortense Ritter.
Sie hielt inne und hob den Kopf. Schatten lagen in ihrem Zimmer. Beunruhigende Flecken aus Dunkelheit, in denen wer weiß was lauern konnte. Der Schein der Stehlampe reichte nicht aus, um die Winkel auszuleuchten. Aber er gab ihr Licht genug für den Brief an Ruben, den sie endlich zu Ende schreiben musste.
Immerzu war sie abgelenkt worden. Von Merles Besuch. Von etlichen Anrufen. Von Frau Morgenroth, die – reichlich spät, wie Hortense fand – die Weihnachtsdekoration vorbereitet hatte und nun um Anweisungen bat. Und natürlich von Emilia mit ihrem nie enden wollenden Geschwätz über dies und das und jenes.
Emilia, die sich in alles einmischte.
Hortense hatte es schließlich ihr überlassen, Frau Morgenroth beim Dekorieren auf die Finger zu schauen. War es denn schließlich nicht gleichgültig, wo der goldene Engel stand und wo sich die bunten Holzfiguren der dreistöckigen Pyramide aus dem Erzgebirge drehten?
Der prächtige Adventskranz mit der roten Schleife und den vier roten Kerzen hing, wie jedes Jahr, in der Mitte der Eingangshalle. Die Adventsgestecke auf den Tischen waren üppig
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