Der Bilderwächter (German Edition)
gestaltet wie immer.
Hortense hatte am Morgen einige Apfelsinen mit Gewürznelken gespickt und sie im Haus verteilt. Schon jetzt verströmten sie diesen einzigartigen Duft, den sie seit ihrer Kindheit so liebte.
Ich hätte eine solche Lust, dir für jeden Tag der Adventszeit ein Geschenk einzupacken, schrieb sie, auch wenn die Hände mir nicht mehr gehorchen wie früher. Ich werde alt, Ruben, denn es gibt für mich keinen Grund mehr, jung zu bleiben.
Warum nur musstest du so früh sterben?
Warum?
Erschrocken blickte sie auf. Das war ihr einfach so aus der Feder gerutscht.
Aber es war die Wahrheit.
Nachdem sie Ruben verloren hatte, lohnte es sich nicht mehr, das Leben. Warum sollte sie weitermachen wie bisher? Sich Morgen für Morgen aus dem Bett quälen. Tag für Tag darauf achten, dass alles war, wie es sein sollte. Entscheidungen treffen. Gespräche führen.
Die Anstrengungen der vielen Stunden aushalten.
Und Emilias Verfolgungswahn.
Mit niemandem kam diese Frau zurecht, fühlte sich verfolgt und bedroht. War fest davon überzeugt, dass jeder ihr Böses zufügen wollte.
Im Augenblick hatte sie sich auf diesen Bodo Breitner eingeschossen. Als wäre er ein Abgesandter des Teufels, eigens zu ihnen geschickt, um sie zu quälen.
Und da, schrieb sie, kann ich sie sogar verstehen. Ich HASSE diesen jungen Mann, Ruben. Ich WILL ihn hier nicht haben. Es muss doch eine Möglichkeit geben, ihn aus deinem Haus zu jagen.
Dabei wusste sie genau, dass sie keine Handhabe gegen ihn und seine Arbeit hatten. Alles ging seinen Gang. Ruben selbst hatte es so verfügt.
Er wird uns deine Bilder nehmen, Ruben. Hast du das wirklich bedacht? Wolltest du, dass unser Friede gestört wird? Nein, ganz sicher nicht. Es ging dir um deine Kunst. Nur darum. Deine wunderbare, einzigartige, unvergleichliche Kunst.
Wie sie das brauchte, ihre Gedanken mit Ruben zu teilen. Wie sie es liebte, dem Kratzen der Feder auf dem Papier zu lauschen. Wie sehr sie sich wünschte, nur noch ein einziges Mal Rubens Stimme zu hören.
Eine Träne rollte über ihre runzlige Wange und tropfte auf das Briefpapier, weichte die Worte Friede, gestört, früh und sterben auf.
Hortense betrachtete die Buchstaben auf dem sich wellenden Papier.
Friede. Gestört. Früh. Sterben.
Die Worte erzählten alles. Die Geschichte ihres Lebens.
*
Schon nach Mitternacht, und Marten war so wach, wie ein Mensch nur sein konnte. Er hatte den ganzen Abend gemalt. Seine Finger waren ausgetrocknet von der Farbe und dem Terpentin, obwohl er sie schon mehrmals mit Fettcreme eingerieben hatte.
In seinem Kopf kamen die Gedanken nicht zur Ruhe. Die Eindrücke und die Formen.
Eigentlich hätte er weitermalen sollen, um sie loszuwerden, doch er war so erschöpft, dass er taumelte. Er schmierte sich ein paar Brote und setzte sich vor den Fernseher. Selbst zum Aufräumen war er zu fertig.
Er war froh, dass er diese kleine Wohnung entdeckt hatte, die über zwei Räume, eine Küche und ein Badezimmer verfügte und doch bezahlbar war.
Vor allem der Balkon war Gold wert. Bei trockenem Wetter konnte er dort Farben lagern und Fundstücke, die er ganz oder teilweise in seine Bilder einarbeitete. Schokoladenpapier, Münzen. Metallstücke, Zweige. Stofflappen.
Einmal war er sogar über ein Goldarmband gestolpert, doch das hatte er zum Fundbüro gebracht.
Er war eine ehrliche Haut.
Das machte ihn für das andere Geschlecht nicht attraktiv. Frauen fuhren auf Scheißkerle ab. Auf solche, die sie behandelten wie Luft. Sie fassten Vertrauen zu den Sensiblen, die ihnen zuhörten und ihnen Zärtlichkeit schenkten. Doch wenn es ums Ganze ging, nahmen sie sich einen, der sich einen Dreck darum scherte, ob sie glücklich waren oder nicht.
Marten war der ewige Kumpel.
Der beste Freund.
Auch für Ilka.
Er schaute auf seine rechte Hand und merkte, dass er das Brot zerquetscht hatte, ohne es wahrzunehmen. Die Butter war ihm durch die Finger gequollen und zog glänzende Spuren auf seiner Haut.
» Mist!«
Er lief zur Spüle, um die Sauerei zu beseitigen, und setzte dann Teewasser auf. Während er darauf wartete, dass es zu kochen begann, betrachtete er das noch feuchte Bild, das auf der Staffelei stand.
Es zeigte einen Mann und eine Frau an einem Tisch. Über ihnen spendete eine Lampe ein verwirrend unruhiges Licht, das eine grüne Weinflasche, Gläser und Brot in den Mittelpunkt rückte. Und die Hände der beiden, die sich ineinander verschränkten.
Um sie herum war diffuses Dunkel, in dem man
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