Der Bilderwächter (German Edition)
durcheinandergeraten.
Jette hatte ihren Wagen in der Altenberger Straße geparkt, nur ein paar Schritte vom Hinterausgang des Bahnhofs am Breslauer Platz entfernt. Sie bogen in die Goldgasse ein, umrundeten den Musical Dome mit seiner blauen Kuppel und tauchten auf dem Konrad-Adenauer-Ufer in die nass glänzende Schwärze des Tunnels ein.
Nachdem sie ihn am anderen Ende wieder verlassen hatten, folgten sie der B 51, vorbei am Schokoladenmuseum und den Kranhäusern. Der Rhein auf der linken Seite floss unberührt und träge dahin, ein bleigraues Band, das immer wieder zwischen den Häusern sichtbar wurde.
Sie fuhren den Holzmarkt entlang, die Bayenstraße und das Agrippinaufer. Danach hatten sie einen besseren Blick auf das Wasser. Keine Häuser, die die Sicht versperrten. Auch die entlaubten Bäume boten kein Hindernis.
Jette redete wenig. Matschiger Schnee machte jeden Bremsvorgang zu einem Wagnis. Wenn am Abend der angekündigte Frost einsetzte, würde sich Köln in eine einzige riesige Eisbahn verwandeln.
Ilka blieb mit ihren Gedanken für sich. Ihre Hände waren kalt und klamm, und zwischen ihren Schultern hatte sich in einem ziehenden Schmerz die Anspannung festgesetzt. Es kam ihr vor, als sähe sie all das hier zum letzten Mal unbelastet. Als würde sich nach dem Treffen mit Thorsten Uhland nicht nur ihr Leben verändern, sondern auch diese Stadt, die sie so lieb gewonnen hatte, dass sie allein beim Anblick des Doms an manchen Tagen einen Kloß im Hals spürte.
Sie ließen den Rhein hinter sich, fuhren hinter Marienburg am Forstbotanischen Garten vorbei und am Friedenswäldchen, immer tiefer in eine weiße Zauberwelt hinein.
Halt an, dachte Ilka. Lass uns hierbleiben.
Doch sie sprach es nicht aus, und Jette fuhr weiter.
Die ehemalige Wachsfabrik war in der alten Zeit stecken geblieben. Sie war von einem verwilderten Stück Land umgeben, das im Sommer geradezu dornröschenhaft aussehen musste, jetzt jedoch an das Märchen von der Schneekönigin erinnerte.
Die winterkahlen Ranken mächtiger Weinreben kletterten an den dicken Backsteinmauern empor und machten sich daran, auch die Fenster zu erobern, hinter denen sich die Ateliers der Künstler befinden mussten.
Hier hatte auch Ruben gearbeitet.
Ruben.
Beinah zwei Jahre lang hatte Ilka Erinnerungen an ihren Bruder nur in der schützenden Gegenwart ihrer Therapeutin zugelassen und sonst versucht, ihnen auszuweichen. Das war nun nicht mehr möglich.
» Soll ich weiterfahren?«, fragte Jette. » Und irgendwo anhalten, damit du dich sammeln kannst?«
Ilka schüttelte den Kopf. Augen zu und durch, dachte sie. Doch ihr war klar, dass dieses Treffen bloß ein Anfang war.
Die Vergangenheit scharrte mit spitzen Klauen an ihrem Gedächtnis.
Sie würde sich nicht wieder einsperren lassen.
Jette parkte, und sie stiegen aus. Ilka tastete nach Jettes Hand. Die Finger der Freundin waren eiskalt, genau wie ihre eigenen.
Langsam gingen sie über den knirschenden Schnee auf den Eingang der alten Fabrik zu.
*
Auch wenn es zwei junge Frauen waren, die da vor ihm standen – Thorsten Uhland erkannte Ilka sofort.
Es lag an einer kaum wahrnehmbaren Ähnlichkeit mit ihrem Bruder, die er vermutlich nur deshalb erspürte, weil er Ruben so gut gekannt hatte. Er konnte sie an keiner Einzelheit festmachen, nicht an den Augen, der Nase, dem Kinn.
Es war, als schimmerte unter Ilkas Zügen geisterhaft Rubens Gesicht.
Einen Moment lang irritierte ihn das, doch dann hatte er sich wieder gefasst.
» Das ist Jette«, sagte Ilka. » Meine Freundin.«
Jette hatte einen überraschend festen Händedruck. Ihre grauen Augen erforschten blitzschnell sein Gesicht. Ihr Lächeln war abwartend und ein wenig kühl.
Ilka betrat das Atelier mit einem Zögern, das sie nicht verbergen konnte. Beklommen sah sie sich um.
Thorsten fragte sich, was ihr durch den Kopf gehen mochte. Er hatte ihre Geschichte aus den Zeitungen erfahren und sich gewundert, dass Ruben ihr seine Bilder überhaupt vermacht hatte.
Seine eigene Schwester zu entführen und wegzuschließen, zeugte nicht gerade von großer brüderlicher Zuneigung. Die Tatsache, dass Ilka sich zum Zeitpunkt ihrer Befreiung in einem denkbar schlechten Zustand befunden haben sollte, erst recht nicht.
Thorsten kniff die Augen zusammen.
Wenn das Glück ihm gewogen war, würde sie alles in seine Hände legen und sich um das Schicksal der Bilder nicht weiter kümmern. Insgeheim hatte er darauf spekuliert, dass der Besuch in seinem Atelier ihr
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