Der Bilderwächter (German Edition)
er die ganze Zeit unterdrückt hatte. » Es wird Ausstellungen in sämtlichen großen Museen geben. Berlin, London, Paris, New York, Tokio. Wir können uns die Rosinen aus dem Kuchen picken, Ilka. Du wirst so reich sein, dass du dein Geld nicht mehr zählen kannst.«
Noch bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, wusste er, dass dieses Mädchen an Geld nicht interessiert war.
» Alle werden die Bilder sehen«, wiederholte sie.
Und da begriff Thorsten Uhland: Sie wollte nicht, dass die Bilder an die Öffentlichkeit gelangten.
Wieso nicht? Was hatte sie dagegen?
Alles hing davon ab, dass er die Antwort auf diese Frage fand.
*
Bodo Breitner hatte in einem Café zwei belegte Brötchen gegessen und dabei Zeitung gelesen. Nach Stunden absoluter Einsamkeit zwischen den stummen Bildern sehnte er sich oft nach Menschen, Stimmen und Geräuschen. Der Duft von Kaffee und Kuchen umschmeichelte seine Sinne, und die lebhaften Gespräche, die an den übrigen Tischen geführt wurden, taten ihm gut.
Doch nun musste er wieder zurück.
Es war noch kälter geworden, der Schnee der vergangenen Tage hart gefroren. Wildvögel hockten hungrig auf den Zäunen. Manche von ihnen verloren ihre Scheu und kamen den Menschengärten nah wie nie zuvor. Auf dem Anwesen der Ritterschwestern hatte Bodo schon beeindruckende Exemplare gesehen: Bussarde, Falken, einmal sogar eine junge Schleiereule.
Er stellte seinen Wagen ab und ging auf das Tor zu. Auch der Kies war von einer vereisten Schneeschicht bedeckt. So versank er nicht bei jedem Schritt in den kleinen Steinen und schonte seine Schuhe.
Nicht nur am Dach des Hauptgebäudes, auch an dem des kleinen Hauses, in dem er arbeitete, hingen Eiszapfen wie Orgelpfeifen. Bodo streckte sich, brach einen ab und lutschte daran, wie er es als Kind getan hatte.
Die glatte Kälte an seinen Lippen brachte frühe Erinnerungen an lange Winter zurück. Im Rückblick waren sie voller Schnee gewesen, dabei schneite es in dieser Gegend so gut wie nie.
Er zündete sich eine Zigarette an, wie er das in jeder Mittagspause tat, und schlenderte beim Rauchen auf und ab. Eigentlich war er zu jung für feste Gewohnheiten, dachte er oft, und doch hatten sich manche Dinge bei ihm so eingespielt, dass er sie wohl nie wieder loswerden würde.
Gewohnheiten hatten seinen Tagen in den anderthalb Jahren der Arbeitslosigkeit Struktur gegeben, und das, davon war er überzeugt, hatte ihm mehr als einmal das Leben gerettet.
Auf und ab. Hin und her zwischen den Häusern, entlang seiner eigenen Spur, die er in den vergangenen Tagen in den Schnee getrampelt hatte. Ein gleichförmiger Trott, in dem seine Gedanken zur Ruhe kamen.
Er zündete sich gerade die zweite Zigarette an, als etwas Großes, Schweres mit ungeheurer Wucht und ohrenbetäubendem Lärm neben ihm auf den Boden prallte und in tausend Stücke zerbarst.
Bodo ließ die Zigarette fallen und machte instinktiv einen Satz zur Seite. Dabei rutschte er auf der überfrorenen Schneedecke aus und stürzte. Er schnappte nach Luft, spürte seinen Herzschlag im Hals wie einen aufgeregten kleinen Vogel.
Vorsichtig bewegte er Arme und Beine. Erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass er unversehrt war, rappelte er sich auf, klopfte sich den Schmutz von Hose und Jacke, sah sich um und versuchte zu begreifen, was geschehen war.
Eine Eisplatte war neben ihm zerschellt, groß und dick genug, um ihn zu erschlagen.
Stille schlug über den grauen Scherben zusammen.
Bodo hob den Kopf, obwohl er doch wusste, was er sehen würde: Das Dach war mit einem Schneefanggitter versehen. Eigentlich war es unmöglich, dass sich ein Gegenstand löste und zu Boden fiel. Außerdem lag bei diesem alten, schlecht isolierten Gebäude kaum noch Schnee auf dem Dach. Erst recht kein Eis.
Hinter einem der Fenster im ersten Stock meinte er eine Bewegung wahrzunehmen. Die Gardine war einen Spaltbreit zur Seite gezogen, das Fensterglas schwarz. Vorher war ihm das nicht aufgefallen.
Ungläubig starrte er hinauf.
Hatte etwa eine der Schwestern …
Unmöglich. Die alten Hexen waren mit sich selbst und ihren Querelen beschäftigt. Und damit, das Haushälter-Ehepaar durch die Gegend zu scheuchen. Sooft Bodo an sie dachte, hatte er ihre keifenden, nörgelnden Stimmen im Ohr.
Hastig trat er aus dem Schatten des Hauses und eilte mit langen Schritten zurück an seinen Arbeitsplatz. Als sich die schwere Stahltür hinter ihm geschlossen hatte, sackte er förmlich in sich zusammen und sank zitternd auf den
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